Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941-45, hg. v. Angrick, Andrej/Mallmann, Klaus-Michael/Matthäus, Jürgen/Cüppers, Martin (= Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Band 2 = Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Band 23). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013. 639 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit dem Ausdruck „Facetten des Schreckens“ charakterisiert das nun in alphabetischer, Egalität signalisierender Nennung erscheinende Quattrumvirat der Herausgeber den hier vorliegenden, nicht illustrierten zweiten Dokumentenband der Reihe zur Tätigkeit der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes (SD) in der Sowjetunion und weist damit zugleich auf einen bedeutsamen Unterschied zum Material des 2011 unter der Bezeichnung „Die ‚Ereignismeldungen UdSSR‘ 1941“ publizierten ersten Bandes hin. Denn die aus den Rohberichten der vor Ort tätigen Kräfte im Berliner Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusammengestellten und damit dessen Perspektive wiedergebenden „Ereignismeldungen“ bilden den seltenen Glücksfall eines homogenen, geschlossen erhaltenen Quellenbestandes. Für die nunmehr veröffentlichten, insgesamt 200 Schriftstücke stellt sich die Situation grundlegend anders dar.

 

Ziel der Editoren ist es nämlich, mit dem zweiten Band „über die Ereignismeldungen hinaus mittels Kompilation verstreuter Archivalien der Forschung eine solidere Basis für die umfassende Analyse der Einsatzgruppen-Geschichte an die Hand zu geben“; es gehe in letzter Konsequenz darum, „über die Rekonstruktion der Geschichte einer zentralen Funktionseinheit hinaus dazu bei[zu]tragen, im komplexen Geflecht deutscher Besatzungsinstanzen, widersprüchlicher Partikularinteressen und ideologisierter Herrschaftsstrukturen Zusammenhänge aufzuzeigen, Verantwortlichkeiten zu verorten und Intentionen freizulegen, die für Millionen von Menschen im Besatzungsgebiet über rund vier Jahre Leben oder Tod bedeuten konnten“. Zu diesem Zweck wurden „die eigentlichen Dienstpapiere der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, ihrer Untereinheiten – Einsatz- und Sonderkommandos (EK/SK) sowie deren Teiltrupps – als auch ihrer stationären Varianten – Befehlshaber und Kommandeure der Sicherheitspolizei und des SD (BdS/KdS) sowie deren Außenstellen […] über die gesamte Dauer des Ostkrieges, von der Phase der Vorbereitung auf den Einsatz in der Sowjetunion im Frühjahr 1941 bis zur Kriegsendphase und dem Rückzug der SS-Kommandos in den Jahren 1944 und 1945“ in einer Auswahl erfasst und zu einer „Mischung aus einschlägigen Schlüsseldokumenten und neuem, bislang weitgehend unbekanntem Quellenmaterial“ (S. 15) vereint. Die Originale dieser Bestände liegen weit verstreut, nicht nur in den großen zeitgeschichtlichen Archiven der Bundesrepublik, sondern weltweit und zum Teil erst rudimentär aufgeschlossen in Ost (im ehemaligen Sonderarchiv in Moskau, in den Staatsarchiven in Riga, Minsk, Kiew und Tallinn, in den Militärarchiven in Prag und Pitesti sowie im Oblastarchiv in Shitomir) und West (im United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C.).

 

Der Vorwurf der Unvollständigkeit, der sich gegen jede Auswahledition erheben lässt, wird allerdings auch im vorliegenden Zusammenhang nicht stumm bleiben, da es die Herausgeber leider verabsäumt haben, eine quantitative und qualitative Aufnahme der jeweiligen Archivbestände im Überblick vorzunehmen. Eine solche wäre allerdings notwendig, um den Auswahlprozess nachvollziehbar zu gestalten und um die Exklusivität oder Repräsentativität bestimmter Schriftstücke näher beurteilen zu können. Stattdessen verweisen sie auf die durch den üblichen Umgang mit Geheimsachen, durch Kriegseinwirkung und gezielte Vernichtung vor Rückzug und Kapitulation verursachten, enormen Aktenverluste, womit „bestenfalls ein Promille der Einsatzgruppenunterlagen Kriegszerstörungen und Dokumentenvernichtungen überdauert haben“ dürfte (S. 18). Dass knapp die Hälfte der hier edierten 200 Schriftstücke aus dem Jahr 1941 stammt, erkläre sich aus „der für den Beginn des Feldzuges relativ guten Überlieferungssituation mit Komplementärakten der Wehrmacht, Zivilbehörden oder SS“. Allgemein folge die Auswahl folgenden Kriterien: „Schlüsseldokumente […], vor allem die zentralen Abmachungen zwischen Himmlers Apparat und der Wehrmacht sowie Heydrichs Einsatzbefehle an die Chefs der Einsatzgruppen und nicht zuletzt seine an die Höheren SS- und Polizeiführer am 2. Juli 1941 übermittelten grundlegenden Weisungen, in denen die im RSHA entwickelten Richtlinien der künftigen Besatzungspolitik kurz, prägnant und ungeschönt zusammengefasst wurden, […] für das Verständnis der Organisation und Einsatzführung der Einheiten notwendige Schriftstücke […], Dokumente […], die unmissverständlich Aufschluss geben über den Massenmord an Juden, Zigeunern, Kranken, Kriegsgefangenen, Polizei- bzw. KL-Häftlingen sowie allen übrigen Opfern, die das Regime als Gegner definierte, […] Quellen zu Gruppen einheimischer Nationalisten, insbesondere zur ukrainischen Bandera-Bewegung, oder zur Kollaboration, [sowie dem Ziel], möglichst umfassend die von den Einsatzgruppen ganz oder teilweise usurpierten Politikfelder zu dokumentieren“. So stünden „nüchterne Statistiken und knappe Befehle, auf rudimentäre Handlungsanleitungen reduziert, (…) neben ausufernden Darstellungen und wortreichen Analysen“, welche die „Truppe des Weltanschauungskrieges“ auch „als intellektuell-exekutive Avantgarde, als ‚Vor-Denker‘ des NS-Millen[n]iums jenseits starrer Kompetenzabgrenzungen von Staat und Partei“ auswiesen: „Noch in den pedantischsten Berichten und den banalsten Schriftwechseln bleibt der Primat des Politischen erkennbar, aus dem die Angehörigen von Sipo und SD ihren exekutiven Monopolanspruch abzuleiten, durchzusetzen und über weite Strecken zu verteidigen vermochten“ (S. 19ff.).

 

Gerade die perspektivisch unterschiedliche Hierarchieebenen berührende Heterogenität des in chronologischer Abfolge vom 28. 4. 1941 bis zum 2. 2. 1945 geordneten Materials ist dabei gut geeignet, ein der historischen Realität gerecht werdendes Abbild der zeitgenössischen Abläufe und ihrer Akteure zu vermitteln. Jedes Dokument ist eingangs mit seiner fortlaufenden Nummer, seiner Spezifizierung und seiner Datierung versehen und schließt mit der jeweiligen Archivsignatur. Der Kommentar in den Fußnoten konzentriert sich im Wesentlichen auf die Ergänzung des historischen Kontextes der Schriftstücke unter Verweis auf jeweils relevante Publikationen. Als besonders nützlich erweisen sich dabei die biographischen Notizen zu verschiedenen Akteuren, die überaus häufig einen juristischen Hintergrund der Täter erkennen lassen. Als ein Beispiel von vielen sei zur Illustration die Kurzvita des nach Kriegsende zunächst zum Tode verurteilten, aber dann nach mehr als einem halben Jahrhundert in Freiheit erst 2010 im biblischen Alter von 99 Jahren verstorbenen, ehemaligen Sonderkommandoführers Martin Sandberger angeführt (S. 42, Fußnote 2): „Dr. Martin Sandberger, geb. 1911, Jurastudium, 1931 NSDAP u. SA, 1932/33 Studentenschaftsführer Tübingen, 1933 Referendarexamen und Dr. jur., 1934/35 hauptamtlich beim Chef des SA-Ausbildungswesens, Mai 1935 SS, Jan. 1936 Referent u. Abt.leiter SD-OA Südwest, 1936 Assessorexamen, 1938 Stubaf., 1939-1941 Leiter Einwandererzentralstelle Nordost des CdS in Lodsch/Litzmannstadt, Febr. 1940 zudem Referent I B 3 (Lehrplangestaltung der Schulen) im RSHA, Sommer 1941 Kdr. SK 1a, Dez. 1941 KdS Reval, 1942 Ostubaf., Sept. 1943 Leiter III beim BdS Italien, Jan. 1944 Gruppenleiter VI A im RSHA, 1945 Staf., 1948 im Nürnberger EG-Prozess zum Tod verurteilt, später zu lebenslanger Haft begnadigt, 1958 entlassen, gest. 2010 […]“. Nicht wenige allerdings, wie etwa Dr. Rudolf Lange, ebenfalls promovierter Jurist, konnten sich mit ihrer durch Verbrechen schwer belasteten Vergangenheit und den drohenden Konsequenzen nicht so gut arrangieren und schieden durch Suizid aus dem Leben (S. 151, Fußnote 4).

 

Bemerkenswert ist das Interesse, das in den (in der Dokumentation ob ihrer Länge nur in Auszügen wiedergegebenen) ausführlichen Tätigkeits- und Lageberichten der Einsatzgruppen auch der Rechtspflege der besetzten Gebiete zuteil wird. Im Bericht der von SS-Oberführer und Oberst der Polizei Erich Naumann geführten Einsatzgruppe B für die Zeit vom 1. 9. – 15. 9. 1942 (Dok. 153, S. 405ff.) finden sich rechtshistorisch interessante Ausführungen der Besatzer zur Rechtspflege zur Sowjetzeit, unterteilt in den Aufbau des Gerichtswesens (Gerichtswesen und Staatsanwaltschaft, Sondergerichte), Richter, Rechtsanwälte und Prokuroren sowie in die Rechtsprechung (Zivilgerichtsbarkeit, Strafgerichtsbarkeit). Ein zweiter Abschnitt widmet sich dann dem „gegenwärtige(n) Zustand auf dem Gebiet der Rechtspflege“, konkret der Zivilrechtsprechung und der Strafgerichtsbarkeit der landeseigenen Verwaltung (Ordnungsstrafgewalt der Bürgermeister, Strafgerichtsbarkeit der städtischen Schieds- und Friedensgerichte). Der weit über 100 Seiten starke und mit zahlreichen Anlagen versehene Gesamtbericht der von SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Dr. Franz Walther Stahlecker – ein weiterer promovierter Jurist – geführten Einsatzgruppe A bis 15. 10. 1941 (Dok. 70, S. 161ff.) beschäftigt sich auch mit dem „Jüdische(n) Einfluss auf die Lebensgebiete im Ostland“ und führt zu Lettland unter anderem akribisch aus: „Vor 1940 gab es in Lettland keine Juden, die Staatsbeamte oder überhaupt in der Staatsverwaltung tätig waren. In der Sowjetrepublik Lettland waren sehr schnell alle einträglichen und einflussreichen Staatsstellungen in der Hand der Juden. […] Der Jude war zur Zeit der lettischen Selbständigkeit von der Laufbahn des Gerichtsbeamten vollständig ausgeschlossen. In der bolschewistischen Zeit ist die Hälfte der Richter Juden gewesen, in den höheren Instanzen – insbesondere in dem Tribunal – betrug die Zahl der jüdischen Richter bis zu 80 %. Im Freistaat Lettland waren 19,6 % der Rechtsanwälte Juden, nach einem halben Jahr bolschewistischer Herrschaft 32,7 %. Der prozentuale Anteil der Juden an der Zahl der Studenten der juristischen Fakultät der Universität Riga stieg von 3 auf 21,8 %“ (S. 191).

 

Dokumente dieser Art lassen unzweifelhaft erkennen, wie sehr die nationalsozialistischen Überzeugungstäter von der Richtigkeit und „Wissenschaftlichkeit“ ihrer ideologischen Prämissen und somit auch von der moralischen Rechtfertigung ihrer in der als „Sonderbehandlung“ verbal kaschierten Ermordung unerwünschter Menschen gipfelnden Taten überzeugt gewesen sein müssen. Am deutlichsten geht dies wohl aus den berüchtigten Berichten des in Litauen tätigen Kommandeurs des Einsatzkommandos 3, SS-Standartenführer Karl Jäger, vom September und Dezember 1941 hervor, der anhand mehrseitiger detaillierter Auflistungen der liquidierten Opfer – in Summe 76.353 (Dok. 56, S. 133ff.) bzw. 137.346 (Dok. 90, S. 241ff.) Menschen – die eigenen „Verdienste“ bei der „Entjudung“ unterstrich und betonte, dass er auch die „Arbeitsjuden incl. ihrer Familien […] ebenfalls umlegen“ wollte, was ihm aus wehrwirtschaftlichen Erwägungen untersagt wurde, weshalb er vorschlug, „dass sofort mit der Sterilisation der männlichen Arbeitsjuden begonnen wird, um eine Fortpflanzung zu verhindern. Wird trotzdem eine Jüdin schwanger, so ist sie zu liquidieren“ (S. 246f.). Generell galt, dass es für tatsächliche oder auch nur vermeintliche Gegner kein Pardon geben durfte, so auch für eine aus Iwanowa stammende Russin, die einem Bericht der Einsatzgruppe B an die Heeresgruppe Mitte vom September 1941 zufolge „für ihren Aufenthalt in Minsk keine Begründung vorbringen konnte. Aus bei ihr vorgefundenen Papieren ergab sich, daß sie sich als Flintenweib betätigt hatte, weshalb sie liquidiert wurde“ (Dok. 53, S. 127).

 

Der Band enthält aber auch Schriftstücke, die belegen, dass ein derartiges Vorgehen der Sicherheitskräfte nicht überall widerspruchslos hingenommen wurde, vor allem, wenn in den Kompetenzbereich der Wehrmacht eingegriffen wurde. Nachdem der SS-Obersturmführer Koch vom Einsatzkommando 8 im November 1941 dem Kommandanten des Durchgangslagers 185, Major Witmer, auseinandergesetzt hatte, dass „alle[n] im wehrfähigen Alter stehenden Männern, die sich über ihre Person den Polizeiorganen gegenüber bei den Strassenkontrollen nicht genügend auszuweisen vermögen und in der Zeit nach der Besetzung des neuen Ostraums durch deutsche Einheiten nur umhergewandert seien, zwangsläufig Partisanentätigkeit unterstellt werden müsse und sie daher wegen fortgesetzter Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und als Asoziale zu liquidieren seien“, habe dieser - die Sachlage messerscharf erkennend – unverblümt festgestellt: „Na, na, nicht so happich, man kann doch keinen glatten Mord begehen“, was den konsternierten SS-Führer zu einer schriftlichen Meldung an den Höheren SS- und Polizeiführer Russland-Mitte, SS-Obergruppenführer von dem Bach, veranlasste, für Witmer wiederum aber allem Anschein nach ohne nachteilige Folgen blieb (Dok. 80, S. 231f.). Zivilcourage bewies auch der Standortkommandeur von Gatschina, Generalmajor Sehmsdorf, der sich im August 1943 persönlich für die russische Leiterin des dortigen Kinderheimes einsetzte, die von der Sicherheitspolizei unter dem fadenscheinigen Vorwand der verbalen Beleidigung eines Gefreiten festgenommen worden war. In einem schriftlichen Vermerk des Einsatzkommandos 1 hielt SS-Obersturmbannführer Dr. Erich Isselhorst, seines Zeichens promovierter Jurist und 1948 hingerichtet, zu dem Vorgang fest: „Aus der ganzen Verhandlung und den Äußerungen des Generals entnahm ich, daß er partei- und SS-feindlich eingestellt ist. […] Eine Zusammenarbeit ist auf dieser Basis unmöglich. Für diesen Fall ist eine sofortige Meldung an das RSHA bezw. den Reichsführer-SS unumgänglich. Es erscheint ferner notwendig, schon jetzt das RSHA von der politischen Einstellung des Generalmajors Sehmsdorf zu unterrichten. Der General ist offensichtlich bereit, einen Russen auch dann in Schutz zu nehmen, wenn er, wie mir im vorliegenden Fall als klar bewiesen erscheint, beleidigende Äußerungen gegen Soldaten der deutschen Wehrmacht gebraucht und darüber hinaus eine derart eindeutige politische Vergangenheit hat. Der General ließ sich sogar mehrfach […] zu der Äußerung hinreißen, daß er den Soldaten wegen seines Verhaltens tatsächlich für ein Schwein halte!“ (Dok. 188, S. 594). Solche den Dokumenten zu entnehmende Kontroversen machen einmal mehr die grundsätzliche Unvereinbarkeit der rassistisch determinierten NS-Ideologie mit den traditionellen Grundsätzen eines humanistisch geprägten Rechtsverständnisses deutlich.

 

Kapfenberg                                         Werner Augustinovic