Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, hg. v. Walk, Joseph unter Mitarbeit v. Brecher, Daniel Cil/Freundlich, Bracha/Jacoby, Yoram Konrad/Weiss, Hans Isaak mit Beiträgen v. Kempner, Robert M. W. und Rückerl, Adalbert. Unveränderter Nachdruck der 1996 erschienenen 2. Aufl. C. F. Müller, Heidelberg 2013. XIII, 452 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Jederzeit abrufbares Basismaterial zählt zur handwerklichen Grundausstattung des (Rechts-)Historikers. Für die Erforschung der antijüdischen Exklusionspolitik des NS-Staats ist Joseph Walks (1914 – 2005) im Jahr 1981 erstmalig erschienene Zusammenstellung fast 2000 normativer Akte der Gesetzgebung und der Verwaltung von der Machtübernahme 1933 bis zum Niedergang der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland 1945 als ein solches Hilfsmittel lange etabliert. Nachdem die gebundene Ausgabe dieser Dokumentation vergriffen war, erschien 1996 eine zweite Auflage als Taschenbuch, die nun, weitere 17 Jahre später, als Reprint allen Interessierten wieder zur Verfügung steht. Bedingt durch die Entscheidung des Verlages für dieses kostengünstige Verfahren unter Verzicht auf eine Überarbeitung kann über entsprechende notwendige Änderungen - etwa ein aktuelles Vorwort oder zumindest ein Update der persönlichen Daten der nahezu sämtlich bereits verstorbenen Herausgeber und Verfasser (für die Sammlung haben der stellvertretende US-Hauptankläger im Nürnberger IMT 1945/1946 und im Wilhelmstraßen-Prozess 1947/1948, Robert M. W. Kempner, 1899 – 1993, eine Einführung, der langjährige Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Adalbert Rückerl, 1925 – 1986, ein Nachwort beigesteuert) - nichts berichtet werden.
Die Quellensammlung umfasst Anordnungen der Zentralinstanzen ebenso wie solche lokaler Behörden und Institutionen zur Einschränkung und Entrechtung der als Juden definierten Teile der Bevölkerung in Deutschland in praktisch allen Lebensbereichen. Beispielsweise finden sich auf S. 5 die folgenden Bestimmungen: Anordnung der Stadtverwaltung Berlin v. 18. 3. 1933 betr. Jüdische Rechtsanwälte und Notare (Dok. I, 10); Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung v. 21. 3. 1933 (Dok. I, 11); Verordnung des Sächsischen Ministeriums des Innern über die Unzulässigkeit von Schlachtungen ohne Betäubung v. 22. 3. 1933 (Dok. I, 12); Verordnung des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung zur Änderung der Schulgeldverordnung vom 22. 3. 1933 (Dok. I, 13); Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich (Ermächtigungsgesetz) v. 24. 3. 1933 (Dok. I, 14). Die Herausgeber erfassen somit sowohl Rechtsakte grundlegender Natur, die für die nachfolgende Politik von richtungsweisender Bedeutung waren, als auch ausschließlich den jüdischen Bevölkerungsteil betreffende Detailregelungen. Ihre Reihung erfolgt strikt chronologisch, wobei die NS-Herrschaft in vier Phasen untergliedert wird und die Zählung der Dokumente für jeden Abschnitt gesondert erfolgt: Von der Machtergreifung bis zu den „Nürnberger Gesetzen“ (31. 1. 1933 – 15. 9. 1935; 637 Dokumente), von den „Nürnberger Gesetzen“ bis zur „Kristallnacht“ (15. 9. 1935 – 9. 11. 1938; 582 Dokumente), von der „Kristallnacht“ bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (10. 11. 1938 – 1. 9. 1939; 229 Dokumente) und vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis zur Vernichtung der deutschen Juden (1. 9. 1939 – 16. 2. 1945; 525 Dokumente).
Editorische Hinweise zur Benutzung der Dokumentation finden sich auf S. XIII der Einleitung. Nach Möglichkeit ist jedes Dokument in der Kopfzeile mit Datum, Herausgeber/Aktenzeichen und der genaueren Bezeichnung der Art des Rechtsakts versehen. Sodann folgen Titel und Text, meist in Form eines zusammenfassenden Regests, seltener als kurzes Originalzitat. Abschließend werden Belege zur Verkündung und Eintragungen an anderer Stelle angegeben, was ein problemloses Aufsuchen des originalen Volltextes möglich macht. Bisweilen erfordert das Erkennen des diskriminierenden Charakters einer Bestimmung einen erläuternden Kommentar, der dann in runder Klammer beigefügt wird. So legte etwa das Reichsministerium des Innern in § 8 (b) der Prüfungsordnung für Tierärzte v. 31. 8. 1934 fest, dass die Bewerber nachzuweisen haben, dass sie Arbeitsdienst geleistet haben, zu dem allerdings, wie die Herausgeber kommentierend anmerken, „Juden nicht zugelassen wurden“ (Dok. I, 443, S. 90). Das differenzierte Stichwortverzeichnis im Umfang von 27 Druckseiten am Ende des Bandes (S. 427 – 452) erlaubt ein gezieltes Navigieren und eine systematische, themenorientierte Nachsuche.
Gesetzt der Fall, jemand würde heute ohne jedes Vorwissen über die seinerzeitigen Vorgänge durch den Band blättern, er würde mit Befremden einen von staatlicher Seite betriebenen, nur gelegentlich von taktischen Rücksichten eingeschränkten Prozess jahrelangen systematischen Mobbings gegen ein Element der Bevölkerung wahrnehmen, dessen Ausschluss aus der „Volksgemeinschaft“ so zum Staatsziel wurde. Keine noch so gelungene Darstellung vermöchte dies deutlicher zum Ausdruck bringen als die nüchterne Abfolge der versammelten Akte der Gesetzgebung und der Verwaltung. Im Herbst 1941, als dieser offenkundige Prozess das Stadium der „Endlösung“, der flächendeckenden physischen Vernichtung jüdischer Menschen, erreicht hatte, scheute die Staatsmacht nicht davor zurück, auch jene massiv zu bedrohen, die sich mit den Verfolgten solidarisch zeigten. Um die Mentalität des Wegsehens zu fördern und Akte der Zivilcourage präventiv zu unterbinden, verfügte das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) - damit der Denunziation Tür und Tor öffnend - in einem Runderlass vom 24. 10. 1941: „Deutschblütige Personen, die in der Öffentlichkeit freundschaftliche Beziehungen zu Juden zeigen, sind aus erzieherischen Gründen vorübergehend in Schutzhaft zu nehmen bzw. in schwerwiegenden Fällen bis zur Dauer von drei Monaten in ein Konzentrationslager, Stufe I, einzuweisen. Der jüdische Teil ist in jedem Fall bis auf weiteres unter Einweisung in ein Konzentrationslager in Schutzhaft zu nehmen“ (Dok. IV, 257; S. 353). Anordnungen dieser Art mögen neben dem permanenten sozialen Druck zur Konformität nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass, wie Adalbert Rückerl in seinem Nachwort zur vorliegenden Dokumentensammlung ausgeführt hat, abseits der Täter und anderer von der NS-Ideologie Überzeugter, „Menschen damals - ebenso wie vielfach hier und anderswo auch noch heute - zu sehr bedacht auf die Wahrung ihres persönlichen Wohlergehens gleichgültig wurden gegenüber dem Schicksal einer willkürlich zum Sündenbock gestempelten Minderheit“ (S. 412).
Kapfenberg Werner Augustinovic