Das Manifest der Toleranz. Sebastian Castellio, Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll - De haereticis an sint persequendi, aus dem Lateinischen v. Stingl, Werner, hg. v. Stammler, Wolfgang F. (= Bibliothek historischer Denkwürdigkeiten). Alcorde Verlag, Essen 2013. 439 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die tolerantia als Ertragung, Erduldung oder Geduld ist bereits dem klassischen Latein gut bekannt und deshalb etwa bei Cicero, Quintilian und Seneca in Gebrauch. Auf die unterschiedlichen Religionen im römischen Weltreich angewendet bedeutet das in Nikomedia herausgegebene Toleranzedikt des Kaisers Galerius vom Frühjahr 311 das Ende der insbesondere von Diokletian 303 eingeleiteten Christenverfolgung. Nach ihrem Sieg folgten die Christen freilich nicht allgemein diesem für sie günstigen Grundsatz, sondern griffen ihrerseits Andersdenkende vor allem seit dem Hochmittelalter entschieden und nachhaltig an.

 

Von großer praktischer Bedeutung wurde dies mit den Reformationen am Beginn der frühen Neuzeit. Von daher ist es nur folgerichtig, dass sich in dieser Zeit nachhaltig Stimmen erheben zu Gunsten der Toleranz und gegen die Verfolgung andersdenkender Mitmenschen. Zu ihnen gehört an hervorragender Stelle der in Saint-Martin-du-Frêne 1515 geborene Sebastian Castellio, der in einem Konflikt mit dem ihn 1541 zum Rektor der Lateinschule in Genf bestellenden Reformator Calvin (Cauvin), der in der reformierten Stadt am 27. Oktober 1553 erstmals die Verbrennung eines „Ketzers“ (Miguel Servet) bei lebendigem Leib veranlasste, 1554 eine Schrift über die Frage, ob man Ketzer verfolgen solle, vorlegte.

 

Der Herausgeber greift im vorbildlichen Einsatz für die Gedankenfreiheit diese gewichtige Kontroverse auf und führt umsichtig in die erste deutsche Übersetzung des wichtigen Werkes ein. Danach kommen etwa Stefan Zweig, der Sebastian Castellio als neu entdeckten Helden bezeichnete, Castellio, Martin Luther, Johannes Brenz, Erasmus, Sebastian Franck und in kleineren Zitaten Theologen wie Lactantius, Augustinus, Hieronymus, aber auch Calvin zu Wort. Hans R. Guggisbergs umsichtige Untersuchung über Sebastian Castellios De haereticis und die Toleranzdebatte 1553-1555, eine Stammtafel Castellios, ein Anhang von Texten aus zeitgenössischen Übersetzungen, eine kleine Ketzerkunde, umfangreiche Anmerkungen, eine Bibliographie und ein Personenregister von Absalom bis Zwingli runden den wertvollen, überzeugend einer Bibliothek historischer Denkwürdigkeiten zugeordneten Beitrag zur frühneuzeitlichen Geschichte der auch unter leidenschaftlichen Christen und Reformatoren zu oft missachteten Toleranz vorteilhaft ab.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler