Carsten, Ernst S./Rautenberg, Erardo C., Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Beseitigung ihrer Weisungsabhängigkeit von der Regierung im Strafverfahren., 2. Aufl. Nomos, Baden-Baden 2012. 569 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die 1932 erschienene Dissertation von Ernst (Sigismund) Carsten: „Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Reform des Strafprozesses“ gehört, wie zwei Nachdrucke aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zeigen, noch immer zu den Standardwerken der strafrechtshistorischen Literatur. Carsten (1907-1984) war, nachdem ihm wegen seiner jüdischen Abstammung die Ablegung des zweiten juristischen Staatsexamens verwehrt war (S. 13), mit seinen Eltern und Geschwistern 1936 in die USA emigriert, wo er ab 1942 Übersetzungsanalytiker (Translator-Analyst) für das Amt für Feindvermögensverwaltung und später Kartellabteilung des Departments of Justice tätig war. Das vorliegende Werk stellt in seinem ersten Teil eine Überarbeitung des Textes von 1932 durch Rautenberg (seit 1996 Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg) dar, wobei dieser bemüht war, „die inhaltlichen Eingriffe so gering wie möglich zu halten“ (S. 11). Nicht übernommen wurde der Schlussabschnitt über die Staatsanwaltschaft in den „außerdeutschen Ländern“ (Carsten, S. 119ff.). Abgeschlossen wird der Abschnitt über die Staatsanwaltschaft in der Weimarer Republik durch ein neues Kapitel über die Notverordnungspraxis dieser Zeit und der Rolle der Justiz im politischen Verfahren (S. 157ff., 162ff.).

 

Bei der Bearbeitung des Textes von Carsten hat Rautenberg die seit 1932 erschienene umfangreiche Literatur zur Geschichte der Staatsanwaltschaft in vollem Umfang berücksichtigt. Insbesondere bringt die Neubearbeitung eine breite Darstellung der französischen Staatsanwaltschaft bis 1801 im Anschluss an die umfangreiche Darstellung von Susanne Wulff-Kuckelsberg (Procureurs – Accusateurs – Commissaires. Die ursprünglichen Funktionsträger der Staatsanwaltschaft, 2002, bes. S. 39ff.), die leider die Genese der napoleonischen Staatsanwaltschaft im Einzelnen nicht mehr dargestellt hat. Für die Entstehung der preußischen Staatsanwaltschaft (1846/1849) greift Rautenberg auf das Werk Peter Collins, „Wächter der Gesetze“ oder „Organ der Staatsregierung“? Konzipierung, Einrichtung und Anleitung der Staatsanwaltschaft durch das preußische Justizministerium. Von den Anfängen bis 1860, 2000, bes. S. 57 ff., zurück, das wesentlich dazu beigetragen hat, dass die idealistische Sichtweise weiter Teile der strafrechtlichen Literatur hinsichtlich der Einführung der Staatsanwaltschaft in Preußen erheblich revidiert wurde (S. 57ff.). Die Darstellung der Entstehung der staatsanwaltschaftsrechtlichen Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1877 (S. 94ff.) hätte vielleicht noch detaillierter auf die Vorentwürfe eingehen können. Für die Weimarer Zeit hat Rautenberg neben der Reformdiskussion auch die Reformprojekte umfassender berücksichtigt, als dies Carsten möglich war (S. 139ff.). Im umfangreichen Abschnitt über die Staatsanwaltschaft unter dem Nationalsozialismus (S. 167-249; S. 249ff. Hinweise auf die Auseinandersetzung mit dem NS-Justizunrecht) behandelt Rautenberg die gescheiterten Entwürfe zu einer Strafverfahrensordnung (1936-1939), die Diskussion über die Stellung der Staatsanwaltschaft in der Literatur sowie den Machtzuwachs für die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gericht und den Beschuldigten durch Teilreformen des Strafverfahrensrechts. Allerdings wurde der Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft erheblich relativiert, da „in zunehmendem Maße seine Strafgewalt von der Justiz auf die Polizei, die seinen Willen reibungsloser umsetzte“, übertragen wurde (S. 223ff., Zitat S. 519). Die 1943/1944 von den sog. Ämtern des Reichsjustizministeriums betriebene Justizreform, die auch die Stellung der Staatsanwaltschaft betraf, zeigt, dass die Etablierung eines „ ‚nationalsozialistischen Richtertums’“ (S. 227) in sich widersprüchlich war (vgl. Quellen bei W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht. Protokolle der Ausschüsse, Bd. VI, 1997, S. 735ff.). Im Abschnitt über die Staatsanwaltschaft in der DDR (S. 290-357) arbeitet Rautenberg insbesondere die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in politischen Strafsachen und die Steuerungsfunktion der drei obersten Justizorgane heraus. Die „machtvolle Rechtsstellung im Staat“, wie sie der Staatsanwaltschaft in Deutschland noch nie eingeräumt worden war und auf das sowjetische Vorbild zurückging, entsprach „ebenso wenig der Realität wie ihre Rechtsstellung in politischen Strafsachen“ (S. 521).

 

Der Abschnitt über die Staatsanwaltschaft in der Bundesrepublik (S. 358-525) weist im einleitenden Teil über „Die Staatsanwaltschaft im Reformstau“ (S. 358ff.) auf den „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Staatsanwaltschaft (StAÄG) vom 2. 12. 1976 und die Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 30. 9. 2009 hin, durch die Deutschland aufgefordert wurde, die Möglichkeit zu beseitigen, „ ‚dass die Justizminister der Staatsanwaltschaft Anweisungen zu einzelnen Fällen geben’“ und „ ,ein System der Selbstverwaltung der Justiz’“ einzuführen (S. 360). In den folgenden Teilen werden de lege lata und de lege ferenda behandelt die Aufgaben der Staatsanwaltschaft, die fragmentarischen Organisationsregelungen im Gerichtsverfassungsgesetz (S. 404ff.; S. 422 zur OrgStA und zu deren letzter Neufassung von 1975) und die Funktion der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren. In einem eigenen Abschnitt befasst sich Rautenberg mit der Bedeutung der „staatsanwaltschaftlichen Abhängigkeiten für das Strafverfahren“ (S. 447 -494) hinsichtlich der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des internen sowie externen Weisungsrechts. S. 507ff. entwickelt Rautenberg die Konzeption einer „unabhängigen Staatsanwaltschaft“, die keinen Einzelanweisungen und krinrn allgemeinen Anweisungen der Regierung mehr unterliegen soll. Das interne Weisungsrecht sowie das Substitutionsrecht und Devolutionsrecht sollte mit Einschränkungen beibehalten werden (S. 465ff.). Das Klageerzwingungsverfahren sollte so umgestaltet werden, dass es möglich sei, „nicht nur staatsanwaltschaftliche Klageerhebungen, sondern auch Einstellungsentscheidungen einer weitgehenden gerichtlichen Kontrolle“ zu unterwerfen (S. 513). Als „Teil einer selbstverwalteten Justiz“ sollten sämtliche Entscheidungen „über Einstellung und Beförderung von Staatsanwälten von parlamentarisch legitimierten Wahlausschüssen getroffen“ werden (S. 514). Das Werk wird abgeschlossen mit einer Zusammenfassung (S. 515-525) und einem umfassenden Literatur- und Quellenverzeichnis, das auch nicht zitierte Literatur zur Staatsanwaltschaft aufführt, um diese umfassend zu dokumentieren. Hilfreich wäre ein Sachverzeichnis, das die detailreiche Darstellung erschließt, gewesen. Es sei darauf hingewiesen, dass über den Rahmen der Zielsetzung des Werkes von Carsten/Rautenberg hinaus aus rechtshistorischer Sicht Darstellungen über einzelne Generalstaatsanwaltschaften von der Kaiserzeit an wünschenswert wären (vgl. Hinrich Rüping, Staatsanwaltschaft und Provinzialjustizverwaltung im Dritten Reich. Aus den Akten der Staatsanwaltschaft bei dem OLG Celle als höherer Justizbehörde, 1990). Insgesamt liegt mit dem Werk Rautenbergs über die Staatsanwaltschaft, das die Dissertation Carstens fortführt und, wie der abgewandelte Untertitel zum Ausdruck bringt, die umstrittene Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Regierung in den Mittelpunkt der rechtspolitischen Überlegungen stellt, ein Grundlagenwerk zur Strafrechtsgeschichte vor, das in keiner juristischen Bibliothek fehlen sollte.

 

Kiel

Werner Schubert