Canis, Konrad, Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902-1914. Schöningh, Paderborn 2011. 719 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Das Buch ist der dritte Band einer Geschichte der Außenpolitik des Deutschen Reiches von seinen Anfängen bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs. Es basiert auf deutschen Archivalien vor allem des Auswärtigen Amtes, von denen die meisten schon einmal gesichtet wurden. Doch werden auch österreichische Akten herangezogen und folglich setzt sich Canis auch eingehend mit der Außenpolitik der Habsburgermonarchie wie der Bündnispolitik beider Mächte auseinander. Auf der Grundlage der kaum mehr zu zählenden Aktenpublikationen zur Vorgeschichte des Weltkriegs, zahlreicher Erinnerungen, Zeitungen, Periodika und der wichtigsten Forschungsliteratur wird das Handeln der Rivalen Frankreich, Russland und Großbritannien im Mächtekonzert miteinbezogen. Doch bleibt die Untersuchung nicht auf die Politik der Mächte fokussiert, sondern versucht immer wieder, die bestimmenden Kräfte in Gesellschaft, Wirtschaft und politischem System, vor allem in Deutschland, mitzubedenken. Das Verständnis für die Ereignisse wie die Handlungsspielräume der Handelnden wird darüber hinaus gefördert durch das Einbeziehen der geistigen Situation und der politischen Wertvorstellungen der Zeit. Schließlich werden Krisen nie analysiert, ohne die militärischen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Das ehrgeizige Projekt also, ein Standardwerk vorzulegen. Beeindruckt von der immensen Arbeitsleistung und der Kennerschaft des Verfassers darf man dies seinem Werk auch konzedieren.

 

Die Deutungen von Canis stoßen sich so gut wie nie mit dem Bild, das die Forschung von dem Machtkampf vor dem großen Krieg entworfen hat, sie bestätigt diese überwiegend. Den Einfluss des Kaisers auf den Gang der äußeren Politik erachtet er für geringer als allgemein angenommen und meist für kontraproduktiv. Der Außenpolitik von dessen Kanzler Bernhard von Bülow, den er für die politisch und diplomatisch größte Potenz der Zeit hält, bringt er viel Verständnis entgegen. Er habe nur das angestrebt, auf das das Reich aufgrund seines Potentials Anspruch erheben durfte: eine halbhegemoniale Stellung auf dem Kontinent und größeren weltpolitischen Spielraum, den die Rivalen der zu spät gekommenen Großmacht aber verweigerten. Schon seltener liest man, dass in den Balkankrisen der unmittelbaren Vorkriegszeit verpasste Chancen für das Reich und Österreich-Ungarn gelegen hätten, ihre Einkreisung zu sprengen. Das hätte eine Stabilisierung des Kontinents zur Folge gehabt, die die Zuspitzung der Lage vielleicht vermieden hätte. Nicht ihrer Bedeutung gemäß wird die destruktive Außenpolitik Frankreichs in ihrer Mischung aus Revanche, Chauvinismus und Imperialismus im Vorfeld des Weltkriegs beachtet.

 

Umfassend, eingehend und multiperspektivisch wird der deutsche Weg in den Krieg geschildert, dessen Bewertung im Einklang mit der Sicht steht, die nach dem Abklingen der „Fischer-Kontroverse“ vermehrt Anhänger fand. Canis konzediert der Reichsleitung und dem Generalstab, dass sie davon ausgingen, dass sich die Lage für Deutschland schon vor der Julikrise verschlechtert hatte und in Zukunft mit einer bedrohlichen militärischen Unterlegenheit zu rechnen war. Es sei aber kopflos gewesen, Österreich-Ungarn nach der Ermordung des Thronfolgers einen Blankoscheck auszustellen in der Hoffnung, dass es diesen zu einem sofortigen und lokal begrenzten Angriff auf Serbien nutze - nach Ansicht von Canis die einzige Chance, um die Katastrophe zu vermeiden. Dem dilettantischen und zögerlichen Handeln Wiens habe man zu lange zugeschaut, nämlich bis die allgemeinen Mobilisierungen in Gang kamen, die Logik der Bündniskonstellationen griff und alle glaubten, den sowieso nicht mehr zu vermeidenden Krieg jetzt noch zu ihren Gunsten entscheiden zu können. Die einzige Chance, den Frieden zu erhalten, hätte nach Canis in einer schnellen und begrenzten Aktion gegen Serbien gelegen; daher wird die konfuse und zögerliche Reaktion Wiens scharf getadelt. Wie viele Autoren erliegt auch Canis bei diesem Thema der Versuchung, Spekulationen nachzugehen, wie der Kriegsausbruch hätte vermieden werden können.

 

Die Darstellung ist gut lesbar, verliert sich aber auch immer wieder in den Einzelheiten des diplomatischen Hin und Her. Zu oft drängt sich der Eindruck auf, Bekanntes nochmals zu lesen. Das Buch hätte gewonnen, wenn es mehr auf neue Einsichten und auf das hin konzipiert worden wäre, was Neues aus den Quellen geschöpft wurde. Zuzugeben ist, dass das mit dem Anspruch, ein umfassendes Standardwerk zu schreiben, nicht immer leicht zu vereinbaren ist. So erfährt man viel, neue und tiefergehende Einsichten hat man aber selten. Das liegt aber auch daran, dass die Forschung die Perspektiven und Deutungen gerade bei diesem Thema schon recht festgezurrt hat.

 

Eichstätt                                                                                                         Karsten Ruppert