Bünnigmann, Kathrin, Die „Esra“-Entscheidung als Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und Kunstfreiheit. Rechtsprechung im Labyrinth der Literatur (= Studien und Beiträge zum öffentlichen Recht 14). Siebeck (Mohr), Tübingen 2013. XXXVIII, 617 S.

 

Der moderne Mensch ist im Sozialstaat vielfach der unmittelbaren Lebenssicherung durch Beschaffung von Nahrungsmitteln und sonstigen zur Wahrung seines Lebens erforderlichen Bedarfsgegenständen enthoben und kann sich deswegen ganz sich und seinem eigenen Seelenleben widmen. Will er seine Gedanken anderen mitteilen, so bietet sich am einfachsten die Darstellung des eigenen, ohne weitere Überlegung bekannten Erlebens an, die in ganz weiten Grenzen in einer freiheitlichen Gesellschaft leicht möglich sein wird, solange der Erzähler davon nur selbst berührt ist. Wenn dagegen eine zwischenmenschliche Beziehung betroffen ist, ergibt sich ein Problem, wenn der eine sagt, alles, was zwischen uns ist, geht allein uns etwas an, der andere aber den Standpunkt vertritt, es sei normal, sich Freunden (auch in Bezug auf den anderen ) anzuvertrauen, auch wenn der andere nur leise sagt, er wolle es trotzdem nicht.

 

Der in Prag am 25. August 1960 als Kind russisch-jüdischer Eltern geborene, als Zehnjähriger mit Eltern und Schwester in die Bundesrepublik Deutschland gewechselte Maxim Biller fing nach dem Studium der Literatur in Hamburg und München und dem Besuch der deutschen Journalistenschule mit Artikeln für Spiegel und Zeit an, veröffentlichte 1990 einen Band mit dem Titel Wenn ich einmal reich und tot bin und legte im Jahre 2003 einen autobiografischen Text vor, in dem intime Einzelheiten über ihn und eine Esra genannte Frau (Ayşe Romey) geschildert werden. Auf die Klage der Betroffenen und ihrer als herrschsüchtige, psychisch kranke Alkoholikern erkennbar geschilderten Mutter (Birsel Lemke) wurde die weitere Verbreitung des vom Verlag Kiepenheuer & Witsch bereits in 4000 Exemplaren verkauften Werkes vom Landgericht München I verboten und das Verbot im Wesentlichen vom Bundesgerichtshof und vom Bundesverfassungsgericht (mit 5 gegen 3 Stimmen) bestätigt, eine Schadenseratzklage der Klägerinnen gegen Autor und Verlag in zweiter Instanz jedoch abgewiesen. Mit der dabei vorgenommenen Abgrenzung befasst sich die von Fabian Wittreck angeregte und betreute, im Sommersemester 2012 von der juristischen Fakultät der Universität Münster angenommene Dissertation der 1982 geborenen, in Münster in Rechtswissenschaft, neuerer deutscher Literaturwissenschaft, Psychologie und Soziologie ausgebildeten, bei Andreas von Arnauld am Lehrstuhl für öffentliches Recht beschäftigten Verfasserin.

 

Gegliedert ist die umfangreiche, detaillierte Untersuchung nach einer Einleitung über den Ausgleich von Kunstschutz und Persönlichkeitsschutz, das Ziel der Erörterung und ihren Gang in sechs Kapitel über die Esra-Entscheidung, die literaturwissenschaftliche Sicht, das Spannungsverhältnis zwischen allgemeinem Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit, die Verfassungsmäßigkeit der Entscheidung, einen Rechtsvergleich mit Frankreich (ausgeprägter Persönlichkeitsschutz), Großbritannien (betonte Äußerungsfreiheit), Spanien und der Schweiz (ausgleichende Stellungnahmen) und den Vereinigten Staaten von Amerika sowie über die Folgeentscheidungen in den Fällen Contergan, Pestalozzis Erben und Caroline von Monaco III. Am Ende schlägt die Verfasserin zwecks Herstellung von Rechtsklarheit ein Prüfungsmodell für künftige Fälle in drei Schritten (Kunst, Erheblichkeit der Verletzung, unzureichende Fiktionalisierung) vor, doch wird das verfahrensrechtliche Ergebnis voraussichtlich meist von den Einzelumständen des jeweiligen Falles (wie etwa verletzte Eitelkeit des Erzählers mit anschließendem Genugtuungsbedürfnis) und auch unausgesprochenen subjektiven Voreinstellungen von entscheidungsbefugten Urteilern abhängig sein.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler