Brüggemann, Johannes A. J., Entwicklung und Wandel des Sexualstrafrechts in der Geschichte unseres StGB. Die Reform der Sexualdelikte einst und jetzt. Nomos, Baden-Baden 2012. 636 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Mit dem vorliegenden Werk soll aufgezeigt werden, „in welche Richtung sich das Sexualstrafrecht bislang entwickelt hat und in welche Richtung es derzeit geht“. Dabei werden unter Einbeziehung des Wertewandels im Sexualstrafrecht auch die Einflüsse untersucht, „die zu diesen Entwicklungen geführt und die Reform der Sexualdelikte maßgeblich beeinflusst haben“ (S. 26). Durch die Betrachtung der Reformen „unter Berücksichtigung der konkret auslösenden Umstände sowie des jeweiligen Zeitgeistes“ soll ein „Gesamtbild von der Entwicklung des historischen und gegenwärtigen Sexualstrafrechts“ gegeben werden. Berücksichtigt werden alle Delikte, die im 13. Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs geregelt sind. Mitbehandelt werden auch § 361 Nr. 6 StGB und die Nachfolgebestimmungen in den §§ 184 e und 184 f StGB sowie der Tatbestand des Menschenhandels (§ 232 StGB). Nicht berücksichtigt werden die pönalisierten Handlungen, die lediglich auf einer sexuellen Motivation beruhen (S. 28). Im ersten Kapitel gibt Brüggemann einen Überblick über die Entwicklungen des Sexualstrafrechts „vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Gesellschaft“ (S. 30-121). Nach einem Abschnitt über die Konzeption der Sittlichkeitsdelikte werden behandelt unter den jeweils relevanten Perspektiven (gesellschaftlicher Blickwinkel, strafrechtliche Entwicklung, Reformprojekte, Judikatur) das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die NS-Zeit, die Zeit der frühen Bundesrepublik bis zur Reform von 1973 sowie die weitere Entwicklung bis zur Gegenwart.

 

Es folgen zum Teil sehr ausführliche Kapitel zu den Tatbeständen über Prostitution sowie Förderung und Ausbeutung sexueller Handlungen Dritter (Kuppelei, Prostitution, Zuhälterei, Menschenhandel), über Homosexualität und Sodomie, über sexuellen Missbrauch gegen und ohne den Willen des Opfers sowie die Erschleichung des außerehelichen Beischlafs, über den sexuellen Missbrauch Minderjähriger, über die Vornahme sexueller Handlungen in Autoritätsverhältnissen und Abhängigkeitsverhältnissen, über die Erregung öffentlichen Ärgernisses und Exhibitionismus, über die Verbreitung pornografischer Schriften sowie pornografische Darbietungen und über die Doppelehe, den Ehebruch und die Blutschande (bis zu ihrem Ausscheiden aus dem 13. Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs). Die einzelnen Abschnitte behandeln wiederum die Entwicklungen in den genannten Zeiträumen bis unmittelbar zur Gegenwart (Gesetz vom 31. 10. 2008 zur Bekämpfung des sexuellen Ausbeutung von Kinder und der Kinderpornografie). Auch in diesen Abschnitten werden durchgehend die gesellschaftlichen Entwicklungen und die rechtspolitische Literatur sowie die jeweilige Judikatur mit berücksichtigt. Herangezogen werden alle wichtigen Reformarbeiten, auch wenn sie gescheitert sind, so u. a. die Strafgesetzentwürfe von 1909, 1913/1919, 1922 [Entwurf Radbruch], 1925 (Reichsratsvorlage), 1927 (Reichstagsvorlage), 1930 (StGB-Entwurf in der Fassung nach den Beschlüssen des Strafrechtsausschusses des Reichstags), E 1933, E 1936/1939 sowie E 1950/1960/1962 (Entwürfe der Großen Strafrechtskommission und der Bundesregierung). Mit Ausnahme der Protokolle des Sonderausschusses des Bundestags für die Strafrechtsreform (6. Legislaturperiode des Bundestags) werden nicht durchgehend berücksichtigt die Beratungsprotokolle der Strafrechtskommissionen und der Parlamentsausschüsse (vgl. aber S. 301 Hinweis auf den Reichstagsausschuss). Dies hätte vielleicht sich dann angeboten, wenn das Ergebnis der Ausschussberatungen von der Regierungsvorlage erheblich abwich (z. B. anders als in dem E 1927 keine Strafbarkeit mehr der ‚Unzucht zwischen Männern’ im Entwurf von 1930, S. 208ff.). Nicht selten werden die partikularen Strafgesetzbücher (insbesondere das preußische Strafgesetzbuch von 1851) herangezogen wie auch die Ausschussberichte der Parlamentskommissionen und die Kommentierung der jeweiligen Normen. Die Untersuchungen werden abgeschlossen mit dem 10. Kapitel: „Erkenntnisse und Anregungen“ (S. 490ff.). Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse unterbreitet Brüggemann Anregungen zu einem kommenden Sexualstrafrecht, gegliedert nach allgemeinen Anregungen (in diesem Zusammenhang Ablehnung einer Änderung der Verfolgungsverjährung) und nach den einzelnen Tatbeständen. Abschließend folgt ein Reformentwurf vom 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs (Bes. Teil), der sich vor allem von dem geltenden Recht durch seine kürzere Fassung und übersichtliche Anordnung abhebt. Diese „Neuordnung“ des Sexualrechts fügt sich in die gegenwärtige Reformbewegung ein, die bis jetzt nur zu teilweisen Änderungen geführt hat.

 

Die Darstellung Brüggemanns zeichnet sich aus durch eine sorgfältige und detaillierte Analyse der jeweiligen Normen (vgl. u. a. S. 427ff. zu der Neuordnung der Pornografieverbote durch das 4. Strafrechtsänderungsgesetz von 1973) und deren kritische Bewertung im jeweiligen Zeitzusammenhang. Die „ganzheitliche Betrachtung“ (S. 27) des Sexualstrafrechts in seiner historischen Entwicklung seit 1871 bildet eine gute Grundlage für speziellere rechtshistorische Arbeiten über das Sexualstrafrecht, die für einige Rechtsgebiete bereits vorliegen (Ilya Hartmann, Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussionen und Gesetzgebung seit 1870, 2006; Kai Sommer, Homosexualität und Strafrecht von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus. Eine Analyse der Straftatbestände im StGB und in den Reformentwürfen [1871-1945], 1999; Christian Schäfer, „Widernatürliche Unzucht“ [§§ 175, 175 a, 175 b, 182 a.F. StGB]. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945, 2006). Mit den Untersuchungen Brüggemanns liegt auch aus rechtshistorischer Sicht (insbesondere auch zur Rechtsgeschichte der Bundesrepublik) ein interessant zu lesendes Grundlagenwerk zur Strafrechtsgeschichte vor, das einen umfassenden Überblick über ein Rechtsgebiet gibt, das wie das Sexualstrafrecht „stetig in Bewegung ist und auch sein muss, da auch die Gesellschaft, der zu dienen es bestimmt ist, sich in stetiger Bewegung befindet“ (S. 516).

 

Kiel

Werner Schubert