Brandes, Detlev, „Umvolkung, Umsiedlung, rassische Bestandsaufnahme“ - NS-„Volkstumspolitik“ in den böhmischen Ländern (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 125). Oldenbourg, München 2012. VI, 309 S., Tab. Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit seinem (ehedem nicht publizierten) Erlass vom 7. Oktober 1939 beauftragte Adolf Hitler unmittelbar nach Abschluss des Polenfeldzuges den Reichsführer-SS Heinrich Himmler mit der „Festigung deutschen Volkstums“ und übertrug ihm damit „1. Die Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland, 2. die Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten, 3. die Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volksdeutschen“ (zit. nach: Moll, „Führer-Erlasse“ 1939-1945“, Dok. 12, S. 101). Dieser Verwaltungsakt offenbart das ernsthafte Bestreben der nationalsozialistischen Ideologen, eine auf dem Rassebegriff aufbauende, langfristige Absicherung der deutschen Hegemonie zu etablieren; die Umsetzung in Form konkreter Maßnahmen wurde pragmatisch den jeweiligen Erfordernissen angepasst, mit dem Hauptziel, die Substanz des deutschen „Volkskörpers“ zu mehren und diesen in die Lage zu versetzen, den ihm zugewiesenen Herrschaftsaufgaben auch in Zukunft gerecht zu werden.

 

Im Gegensatz zur Situation in Polen, das kriegerisch niedergerungen werden musste, konnte sich das Deutsche Reich der Tschechoslowakei 1938/1939 mittels massiven diplomatischen Drucks bereits in Friedenszeiten bemächtigen. Im Ergebnis zeigt sich hier wie dort eine ähnliche Verwaltungsstruktur: Den „eingegliederten Ostgebieten“ des deutsch besetzten Polen kann in der zerschlagenen Tschechei der „Reichsgau Sudetenland“, dem „Generalgouvernement“ das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ (bei allen Unterschieden in der Autonomiestellung, behielt doch das Protektorat unter deutscher Kuratel formal seine eigene tschechische Regierung) vergleichbar zur Seite gestellt werden. Es bietet sich daher an, bei der Besprechung der hiesigen Maßnahmen die Entwicklung in Polen kontrastierend im Auge zu behalten.

 

Dies will auch Detlef Brandes in seiner jüngsten Studie, mit der er an seine älteren, damals noch von einem Mangel an Akten aus tschechischen Archiven gekennzeichneten Forschungsarbeiten (vor allem: „Die Tschechen unter deutschem Protektorat“, Teil I u. II, München 1969/1975, 1999 auch in tschechischer Sprache veröffentlicht) anschließt. Die Frage, „warum und wie sich diese ‚Volkstumspolitik‘ gegenüber den Tschechen von der Politik gegenüber anderen Völkern im östlichen Europa , vor allem den Polen, unterschied“, beschäftigt den vormaligen Leiter des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf nunmehr auf breiterer Quellenbasis ebenso wie die „unterschiedlichen Positionen, Strategien und Taktiken einzelner Institutionen, Politiker und Besatzungsbeamter im Protektorat und im Gau Sudetenland, die […] Richtung und Ausmaß der Volkstumspolitik beeinflusst haben“ (S. 3f.). In einem ersten Abschnitt zeichnet er die grundsätzlichen Linien der deutschen Politik in Tschechien nach, dem eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Bereichen und Methoden der Volkstumspolitik (Förderung und Ansiedlung von Volksdeutschen, Maßnahmen gegen die tschechische Sprache und gegen tschechische Schulen, Eindeutschung der Verwaltung und der Wirtschaft, Bodenpolitik und deutsche „Landbrücken“) folgt. Das dritte, abschließende Kapitel widmet sich den klassifizierenden und selektierenden Aktivitäten der Machthaber im Rahmen der Rassenpolitik, bevor eine 15-seitige Zusammenfassung zunächst in deutscher und dann, von Helena Zimmermann übersetzt, auch in tschechischer Sprache das Wesentliche des Bandes resümiert.

 

Die bestimmenden Akteure der Politik im Protektorat waren, oft mit gegenläufigen Intentionen, der erfahrene reichsdeutsche Diplomat und vormalige Außenminister, Konstantin Freiherr von Neurath, als Reichsprotektor, sein in der Sudetendeutschen Partei sozialisierter, deutlich jüngerer Staatssekretär, Karl Hermann Frank, und schließlich der Chef des Berliner Reichssicherheitshauptamts (RSHA), Reinhard Heydrich, in der Funktion eines stellvertretenden Reichsprotektors. Grundsatzentscheidungen fällte Hitler persönlich, so am 23. September 1940, als er sich, in erster Linie zum Zweck der Absicherung der für das Reich unverzichtbaren örtlichen Rüstungsproduktion, „für die Aufrechterhaltung des Protektorats und für eine langfristige Assimilierung des ‚größeren Teils‘ und die Ausschaltung des ‚rassisch unbrauchbaren‘ und ‚reichsfeindlichen‘ Teils des tschechischen Volkes“ aussprach (S. 237). Nach Heydrichs Tod im Juni 1942 konzentrierte sich die faktische Macht im Protektorat bis Kriegsende trotz nomineller Nachfolger in den ihm übergeordneten Ämtern (Kurt Daluege für Heydrich, Wilhelm Frick für Neurath) in der Person Franks, der schließlich als Deutscher Staatsminister für Böhmen und Mähren amtierte. Anfangs ein Scharfmacher, schwenkte er seit der gescheiterten Eroberung Moskaus im Herbst 1941 und verstärkt nach der Niederlage von Stalingrad zu Jahresbeginn 1943 auf eine insgesamt nüchternere, an den Realitäten orientierte Interessenpolitik ein, um die Tschechen nicht zum Widerstand zu provozieren und Ruhe und Ordnung vor Ort im Dienst der Kriegswirtschaft aufrechtzuerhalten.

 

Trotz unterschiedlicher Auffassungen der jeweiligen Okkupationsbehörden über einzelne Schritte der Volkstumspolitik, ihrer anhaltenden Rivalitäten und des zeitweiligen Kompetenzgerangels bestand unter den Besatzern offensichtlich ein Konsens über das Ziel einer weitgehenden Germanisierung des Raumes, das man aus Nützlichkeitserwägungen während des Krieges gegenüber den Tschechen nach Möglichkeit zu verschleiern trachtete. Am besten zeigen dies die versteckten Bestrebungen einer rassischen Bestandsaufnahme und die Maßnahmen zur Umwidmung des Bodens. Mitarbeiter der Außenstelle Prag des Rasse- und Siedlungshauptamts der SS (RuSHA) prüften von 1943 bis 1945 binnen zweier Jahre etwa fünf Prozent der tschechischen Bevölkerung und stuften – je nach eingesetztem Maßstab (Wertungsgruppen I bis III+ bzw. III) – 47 bis zu 85 Prozent als „eindeutschungsfähig“ und nur 15 Prozent als „rassisch untragbar“ ein. Detlef Brandes wertet diese Untersuchungen anhand der tabellarisch dargestellten Untersuchungsergebnisse (S. 206 – 222) im Detail aus. Acht auf Hochglanzpapier gedruckte, zeitgenössische Karten zur Raumordnung, zentral placiert und die einzigen Illustrationen des Bandes, veranschaulichen die über das Bodenamt forcierte Umverteilung des Bodens, die das Ziel verfolgte, deutschen Siedlungsraum in Form von Landbrücken zu verbinden und zu arrondieren und tschechisches Gebiet einzuschnüren. Ein probates Mittel zu diesem Zweck war die Erweiterung der Truppenübungsplätze Milowitz, Brdywald und Wischau sowie die Anlage des Truppenübungsplatzes „Böhmen“ der Waffen-SS westlich Beneschau: „Mit der Aussiedlung der tschechischen Bevölkerung betraute das Bodenamt die Protektoratsregierung, die sich dafür ihres ‚Abwandererfürsorge-Instituts‘ und mehrerer Aussiedlungskanzleien bediente. […] Tschechische Gendarmen sorgten dafür, dass die Evakuierung der Bevölkerung ohne Bedrohung von Ruhe und Ordnung ablief“ (S. 243). Sowohl 12.000 Südtiroler als auch eine erhebliche Zahl Volksdeutscher aus Osteuropa sollten ebenfalls im Protektorat ihre neue Heimat finden, doch verblieben zuletzt nur wenige - etwa 11.600 Volksdeutsche, die Hälfte davon aus der Dobrudscha – für den Zuzug in die böhmischen Länder. Die Masse der Tschechen ließ sich jedenfalls nicht täuschen und zog aus dem Vorgehen der Okkupanten durchaus illusionslos ihre Schlüsse, sodass, wie der Sicherheitsdienst der SS (SD) einmal melden musste, „manchem Tschechen das sowjetische Russland tragbarer als ein deutsches Regime“ erschien. Darüber hinaus brachte, so der Verfasser, die nationalsozialistische Volkstumspolitik „die Exilregierung ohne Zweifel dazu, an dem Ziel der Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen festzuhalten“ (S. 249) – was dann auch nach Kriegsende unter den bekannten, blutigen Umständen ins Werk gesetzt wurde.

 

Sucht man nach den Schwachpunkten dieser erhellenden Darstellung, so kann man einen darin erblicken, dass zwar immer wieder Seitenblicke auf die Entwicklung in Polen geworfen werden, ein systematischer Vergleich der Verhältnisse in den jeweiligen besetzten Gebieten nach vorher festgelegten Kriterien aber unterbleibt. So erfährt man beispielweise, dass, was in Anbetracht der Forschungslage keine Neuigkeit darstellt, bei den Umsiedlungen „das trotz der negativen Auswirkungen auf die betroffene Bevölkerung planvolle Vorgehen im Protektorat […] in krassem Gegensatz zu dem Chaos (steht), das die SS bei der brutalen Deportation – und Ermordung – von Polen und Juden sowie der Ansiedlung von Volksdeutschen seit 1939 in Westpolen und noch 1942/1943 während der sogenannten Zamość-Aktion zur Germanisierung von Teilen des Distrikts Lublin schuf“, aber auch, dass - überraschender Weise - das RuSHA in den böhmischen Ländern deutlich strengere Kriterien an Eindeutschungen anlegen wollte, als dies die Gauleiter von Danzig-Westpreußen und von Oberschlesien mit ihrer „Politik einer massenhafte(n) Aufnahme von Polen in die ‚Deutsche Volksliste‘“ praktizierten (S. 244 und 247). Es wäre aufschlussreicher gewesen, diese wertvollen, aber verstreuten Querverweise zur Umsetzung der NS-Volkstumspolitik in Polen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und dem Bild der Entwicklung in Tschechien geschlossen gegenüberzustellen. Damit sei noch ein weiteres Anliegen verknüpft: Obwohl der besprochene Band mit allen nötigen Verzeichnissen – verdienstvoller Weise also auch mit einem Sachregister – reich versehen ist, fehlt eine chronologische Auflistung der relevanten Ereignisse im Reichsgau Sudetenland und im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren unter Einbeziehung des polnischen Vergleichsraumes. Eine solche Aufstellung sollte im besten Fall auch die maßgeblichen Institutionen und vor allem die Rechtsnormen berücksichtigen und benennen, auf deren Grundlage die entscheidenden Verwaltungsakte gesetzt wurden, und würde in dieser Form wesentlich zu einer leichteren Orientierung und zu einem präziseren Verständnis der Entwicklungen im besetzten Böhmen und Mähren beitragen.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic