Bolius, Uwe/Lorenz, Isabella, Der Jugendgerichtshof Wien. Die Geschichte eines Verschwindens. NWV, Wien 2011. 241 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Während des 20. Jahrhunderts setzte sich allgemeiner die Erkenntnis durch, dass Jugendliche sich strafrechtlich anders verhalten können als Erwachsene und dass das Verfahrensrecht diese Erfahrungstatsache gerechterweise berücksichtigen kann und soll. Dementsprechend wurden nach nordamerikanischem Vorbild seit 1908 im Deutschen Reich durch Geschäftsverteilungspläne erste besondere Jugendgerichte als Abteilungen der allgemeinen Strafgerichte gebildet. 1923 schrieb sie das Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar des Jahres verpflichtend vor.

 

In Österreich beschloss die provisorische Nationalversammlung am 25. Januar 1919 die Einrichtung eines Jugendgerichts, die in Wien am 15. Oktober 1920 verwirklicht wurde. Dieses für alle rechtlichen Jugendstrafsachverhalte des Großraums Wien zuständige Gericht wurde zunächst im Gebäude des früheren Bezirksgerichts Landstraße untergebracht, bis es 1922 mit der Justizanstalt Wien Erdberg in einen Neubau in der Rüdengasse übersiedeln konnte. Mit dem Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes im Jahre 1929 wurde hieraus am 1. Januar 1929 der Jugendgerichtshof.

 

Das vorliegende Werk versteht sich nach seinem Vorwort als ein Dokumentarfilm über typisch österreichische Zustände der Gedankenlosigkeit und Demokratielosigkeit, die viele, wenn auch nicht alle Österreicher innig lieben und schätzen. Die beiden 1940 und 1979 geborenen, durch Romane und Filme hervorgetretenen Verfasser schildern in fünf Kapiteln aus der Geschichte des Jugendgerichtshofs nur die besondere Geschichte seines Verschwindens, wenngleich Uwe Bolius als erstes die Jugendgerichtsbarkeit in Österreich von der Zeit der Monarchie bis zur Auflösung des Jugendgerichtshofs Wien zum 30. Juni 2003 unter Justizminister Dieter Böhmdorfer darstellt, ehe sich Isabella Lorenz mit der Chronologie des Endes einer Ära, der Zeit nach dieser Ära und den verschiedenen Stellungnahmen zur Auflösung befasst und danach beide Autoren neun Gesprächsprotokolle und das Interview mit dem Minister dokumentieren. Dadurch machen sie nachdrücklich auf einen verlorenen Kampf gegen den die Sinnhaftigkeit eines eigenen Jugendgerichtshofs bezweifelnden und dessen Zuständigkeiten nach der Auflösung auf die Wiener Bezirksgerichte und das Landesgericht für Strafsachen übertragenden Politiker und damit auf ein eigenes, ruhmloses Kapitel österreichischer Gerichtsgeschichte aufmerksam.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler