Bertrand, Anja, Zur Entwicklung des Verschollenheitsrechts. Eine rechtshistorische Betrachtung unter besonderer vergleichender Darstellung der Regelungen des preußischen Landrechts von 1794, des Code civil von 1804 und der deutschen Kodifikationen des 20. Jahrhunderts. Kovac, Hamburg 2013. XXXIV, 232 XVIII S. Besprochen von Werner Schubert.
Mit ihrer unter Franz Dorn entstandenen Trierer Dissertation hat sich Bertrand zum Ziel gesetzt, „die Entwicklung, die das Verschollenheitsrecht genommen hat, hinsichtlich der wichtigsten Stationen nachzuzeichnen und zu begutachten“ (S. 5). Um dieses Vorhaben zu erreichen, hat sich Bertrand auf die Regelungen des preußischen Allgemeinen Landrechts, des Code civil und des Bürgerlichen Gesetzbuchs (einschließlich des Verschollenheitsgesetzes von 1939) beschränkt. Die Zeit bis zum 18. Jahrhundert wird „im Sinne einer überblicksartigen Hinführung“ dargelegt (S. 5). Bertrand beginnt mit dem römischen Recht, das Todesvermutungen und Todeserklärungen nicht kannte. Die oberitalienischen Bearbeiter des römischen Rechts begründeten mit der „Lehre von der Lebenspräsumtion“ ein eigenes Verschollenheitsrecht (S. 23ff.), das von der sächsischen Rechtspraxis mit dem Institut der provisorischen Erbschaft (Einsetzung von Präsumtiverben) und mit der Verpflichtung zur Kautionsleistung weiterentwickelt wurde (S. 28ff.). Damit unterteilten die sächsischen Juristen den „bisher einheitlichen Zeitraum“ (S. 39). In Frankreich bildete sich die Lehre von der Todespräsumtion heraus, wonach das Leben einer verschollenen Person bereits vor Erreichen der durchschnittlichen Lebensdauer für beendet vermutet wurde (S. 40ff., 44).
In Teil II: „Das Verschollenheitsrecht der ausgewählten Kodifikationen“ befasst sich Bertrand zunächst ausführlich mit dem Verschollenheitsrecht des Allgemeinen Landrechts, und zwar zunächst mit der Vormundschaft über einen Abwesenden (S. 57ff.) und anschließend mit der Todeserklärung und der Beendigung der Verschollenheit (S. 74ff.). Das ALR kombinierte die Systeme der Lebens- und Todespräsumtion. Für die erste Phase ordnete es eine Abwesenheitsvormundschaft an, während nach zehnjähriger Verschollenheit die Todeserklärung erfolgen konnte. Damit verzichtete das ALR auf „jegliche Einzelbegutachtung“. – Nach einer detaillierten Analyse der Quellen zum Code civil (S. 102ff.) kommt Bertrand zu dem Ergebnis, dass nach französischem Recht ein Verschollener zu keinem Zeitpunkt „rechtlich als ein Lebender oder Toter vermutet, vielmehr jegliche Vermutung von Grund auf für unstatthaft gefunden“ wurde. Lediglich an den „Zustand der Verschollenheit werden zeitlich hintereinander verschiedene Rechtsfolgen angeknüpft“ (S. 228). Nach vierjähriger Abwesenheit konnte die abwesende Person in einem kontradiktorischen Zeugenverhör (S. 135ff.) eine Einweisung in den provisorischen Besitz des Verschollenen erlangen (S. 145ff., 159ff.). Nach Ablauf von 30 Jahren oder bei einer Abwesenheit des Verschollenen ab 100 Jahren nach seiner Geburt konnte die Besitzanweisung für definitiv erklärt werden, ohne dass damit eine Todesvermutung verbunden war. Damit stehen im Recht des Code civil die Interessen des Verschollenen im Vordergrund (vgl. S. 126, 170). Im Einzelnen weist Bertrand nach, dass das Verschollenheitsrecht des Code civil in Deutschland fehlinterpretiert wurde, und zwar auch noch vom BGB-Redaktor Gebhard (S. 182f., 177ff.). Im Ganzen wäre es zum Verständnis der französischen Entwicklung aufschlussreich gewesen, wenn Bertrand detaillierter auf die Entwürfe zum Code civil von 1793 an näher eingegangen wäre (vgl. bei B.A. Fenet, Code civil, Bd. 1, 1827).
Im Abschnitt über das Bürgerliche Gesetzbuch und das Verschollenheitsgesetz von 1939/1951 geht Bertrand zunächst auf die Pflegschaft für einen Abwesenden ein (§ 1915 BGB, S. 184ff.; Materialien zu dieser Norm bei Gottlieb Planck, Vorentwürfe, Familienrecht, Bd. 2, [hrsg. von W. Schubert], 1983, S. 1245ff.). Die sich daran anschließende Todeserklärung konnte nach einem Aufgebotsverfahren (durch Urteil; seit dem Verschollenheitsgesetz durch Beschluss) nach § 14 BGB a. F. erfolgen, „wenn seit zehn Jahren keine Nachricht von dem Leben des Verschollenen eingegangen ist“ (kürzere Fristen bei Kriegsverschollenheit und Seeverschollenheit). Damit folgte das BGB der Todespräsumtionslehre. Insgesamt wäre es hilfreich gewesen, wenn Bertrand noch ausführlicher auf die Entstehung des Verschollenheitsrechts des BGB eingegangen wäre. Nach dem Verschollenheitsgesetz von 1939 ist die „Todeswahrscheinlichkeit“ nicht mehr nur Folge der Todeserklärung, sondern „die Einschätzung vom eingetretenen Tod“ wurde „im Verschollenheitsbegriff verankert“, so dass eine „individuellere Begutachtung der Einzelumstände“ notwendig ist (S. 200f.; zu § 1 VerschG vgl. die Quellen bei W. Schubert, Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, 1993, S. 342, 360; zur Regelung der Luftverschollenheit ausführlich in: Akademie für Deutsches Recht, Ausschussprotokolle, hrsg. von W. Schubert, Bd. III, 1990, S. 625ff.). Hingewiesen sei noch darauf, dass die Vorschläge der Akademie für Deutsches Recht zu einem Volksgesetzbuch von 1941 auch das Verschollenheitsrecht umfassen (vgl. Schubert, aaO., Bd. III 1, S. 58f., 536ff., 615ff.).
Mit ihrem Werk hat Bertrand für die neuzeitlichen Kodifikationen nicht nur die Einzelregelungen des jeweiligen Verschollenheitsrechts, sondern vor allem auch die für letztere maßgebende Grundsatzentscheidungen herausgearbeitet. Dies gilt vor allem für die nicht leicht erschließbaren Grundlagen des Verschollenheitsrechts des Code civil. Insgesamt liegt mit dem Werk Bertrands eine für die neuzeitliche Rechtsgeschichte wichtige Untersuchung vor, die Raum lässt für weitere Arbeiten, etwa für das Verschollenheitsrecht des Allgemeinen Bürgerrlichen Gesetzbuchs und des sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuchs (vgl. S. 5).
Kiel |
Werner Schubert |