Zweihundert (200) Jahre ABGB (1811-2011). Die österreichische Kodifikation im internationalen Kontext, hg. v. Dölemeyer, Barbara/Mohnhaupt, Heinz (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 267). Klostermann, Frankfurt am Main 2012. IX, 407 S. Besprochen von Gunter Wesener.

 

Zum zweihundertsten Geburtstag des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs ist eine Reihe von bedeutenden Werken erschienen, so die zweibändige Festschrift 200 Jahre ABGB, hg. v. C. Fischer-Czermak/G. Hopf/G. Kathrein/M. Schauer (Wien 2011), die Sammelbände „200 Jahre ABGB – Ausstrahlungen. Die Bedeutung der Kodifikation für andere Staaten und andere Rechtskulturen“, hg. v. M. Geistlinger/F, Harrer/R. Mosler/J. M. Rainer (Wien 2011) und „200 Jahre ABGB. Evolution einer Kodifikation. Rückblick – Ausblick – Methode“, hg. v. A. Fenyves, F. Kerschner, A. Vonkilch (Wien 2012). Im Jahre 2012 erschien in Wien in der Schriftenreihe des österreichischen Notariats die Sammlung „200 Jahre Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) und Europäisches Vertragsrecht, hg. v. Georg E. Kodek. Von dem auf drei Bände angelegten Werk „Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB). Eine europäische Privatrechtskodifikation“ ist im Jahre 2010 zunächst der Band III: „Das ABGB außerhalb Österreichs“ (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 57, Berlin) erschienen, hg. v. Elisabeth Berger.

 

Zur 200-Jahrfeier des ABGB hatte vom 4. bis 6. November 2011 im Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main in Kooperation mit dem Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ein Symposium stattgefunden, wobei das ABGB im internationalen Kontext gesehen werden sollte. Alle Referate finden sich in überarbeiteter Form im vorliegenden anzuzeigenden Band (Vorwort S. VIII).

 

Dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, dem französischen Code civil von 1804 und dem deutschen BGB von 1896 war vom Max-Planck-Institut jeweils ein eigenes Symposium gewidmet worden. Eine europäische Gesetzgebungsgeschichte wurde angestrebt. Zu diesem Zweck wurden beim ABGB-Symposium fünf Themenkomplexe gebildet: „Staatliche und wirtschaftliche Voraussetzungen der habsburgischen Monarchie für das Kodifikationsziel; Theorie und praktische Gestaltung der Kodifikation; die Kodifikation in der Praxis; ihr Einfluss auf ausländische Rechtsordnungen; die Spiegelung der Religion in der Kodifikation sowie deren Sprache und wertende Aufnahme in der europäischen Öffentlichkeit“ (Vorwort S. VIIIf.).

 

In einem umfassenden  Beitrag (S. 1-31) behandelt Ernst Bruckmüller die Lage der Habsburgermonarchie in den Jahrzehnten zwischen Maria Theresia und Metternich in Hinblick auf die Kodifikation des ABGB. Die staatsrechtlichen Veränderungen, Steuer- und Agrarreformen, Kirchen- und Bildungsreform werden erörtert. Der Verfasser hebt hervor (S. 30f.), dass das ABGB in Zeiten schwerer Staatskrisen entstanden ist.

 

Wilhelm Brauneder untersucht „Gesetzgebungslehre und Kodifikationspraxis am Beispiel des ABGB“ (S. 33-40). Erörtert werden die von Franz von Zeiller entwickelten Grundsätze der Gesetzgebung und ihre Anwendung in der Praxis, wie „gleiche Gerechtigkeit“, Gleichförmigkeit, Übereinstimmung, Form im engeren Sinn, Kürze und Kundmachung.

 

„Inhalt und rechtspolitische Bedeutung der »Einleitung« des ABGB im Kontext der Kodifikationsgesetzgebung des frühen 19. Jahrhunderts“ (S. 41-69) sind Gegenstand des Beitrages von Thomas Simon. Den Zweck der Einleitungskapitel in den naturrechtlichen Kodifikationen sieht der Verfasser (S. 66) vor allem darin, der Justiz durch die Positivierung methodischer Regeln für Gesetzesauslegung und Lückenfüllung eine bestimmte Richtung vorzugeben. Die Regeln traten an die Stelle der älteren Interpretationsverbote und des Référé législatif.

 

Sehr gehaltvoll ist auch der Beitrag Martin P. Schennachs: „»Gleichförmigkeit der Länderrechte« oder ein »willkürig ganz neues Recht«? Provinzialrechte und Kodifikationsprozess in den österreichischen Ländern“ (S. 71-120). In dieser für die österreichische Kodifikationsgeschichte wichtigen Untersuchung wird insbesondere auf die Rolle der Länderkommissionen eingegangen (S. 101ff.). Diese wurden mehrfach (1792/1793, 1796/1797, 1802 und 1804) zur Abgabe von Stellungnahmen aufgefordert. Im Gegensatz zu Preußen zeigten die österreichischen Landstände aber ein Desinteresse an der Erhaltung partikularer Statuten. Diese Einstellung führte schließlich zur Bestimmung von § 11 ABGB, wonach nur jene Statuten einzelner Provinzen und Landesbezirke Gesetzeskraft haben sollten, welche nach der Kundmachung des ABGB vom Landesfürsten ausdrücklich bestätigt würden (dazu Hofdekret vom 13. Juli 1811). Das Prinzip der Rechtsvereinheitlichung setzte sich in Österreich in weit stärkerem Maße durch als in den Preußischen Staaten, wo dem ALR im Verhältnis zu den Provinzialgesetzen nur subsidiäre Geltung zukam (ALR, Einleitung, §§ 1 und 21; vgl. Verfasser S. 114).

 

Heinz Mohnhaupt erörtert das Verhältnis zwischen Kodifikation und Rechtsprechung am Beispiel von Kommentaren und Rechtsprechungssammlungen zum ABGB (S. 121-157). Er versucht eine Typisierung der Kommentarliteratur des 19. Jahrhunderts (S. 141ff.). In immer stärkerem Maße wurden in den Kommentaren Rechtsprechung und Literatur berücksichtigt (vgl. 6. Auflage des Commentars von Moritz von Stubenrauch, Wien 1892). Leopold Pfaff und Franz Hofmann verwerten in ihrem groß angelegten, freilich ein Torso gebliebenen Kommentar in starkem Maße die Materialien zum Gesetzbuch, insbesondere die Sitzungsprotokolle der Hofkommission in Gesetzessachen (vgl. G. Wesener, Leopold Pfaff (1837-1914) – Zivilrechtler, Pandektist, Rechtshistoriker, in: Festschrift für Helmut Koziol zum 70. Geburtstag, Wien 2010, 1511-1529, insbes. 1522.).

 

„»Österreichisches«, »Deutsches« und »Nationalsozialistisches« in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum ABGB zwischen 1939 und 1945“ (S. 159-175) behandelt Hans-Peter Haferkamp in seiner Studie. Auf der 5. Jahrestagung der Akademie für Deutsches Recht in Berlin im Juni 1938 stand die Frage der Rechtseinheit mit Österreich, der „Ostmark“, im Mittelpunkt der Erörterungen. Der Romanist Ernst Schönbauer, von 1938 bis 1943 Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien (zu Schönbauer F.-St. Meissel, Strategien der Anpassung – Römisches Recht im Zeichen des Hakenkreuzes, in: Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht. Zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945, hg. v. F.-St. Meissel u. a., Wien 2012, S. 57-62), sprach über das ABGB und die Rechtserneuerung. Er hob hervor, das ABGB enthalte zahlreiche deutschrechtliche Gedanken; seine weitreichenden Generalklauseln würden es ermöglichen, das Gesetzbuch im nationalsozialistischen Sinne auszulegen. Im Gegensatz zum deutschen BGB stamme das ABGB nicht aus der liberalen Ära und stehe dadurch dem heutigen Rechtsdenken näher (S. 161). Die österreichischen Juristen, darunter auch Ernst Swoboda, seit 1940 Leiter eines Instituts für Rechtsvereinheitlichung in Wien (zu E. Swoboda nun I. Schartner, Die Staatsrechtler der juridischen Fakultät der Universität Wien im ‚Ansturm’ des Nationalsozialismus. Umbrüche mit Kontinuitäten, Frankfurt/M 2011, S. 321-328; M. Leitner, Das Zivilrecht an der Universität Wien, in: Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht, wie oben, S. 268-277), verteidigten die Positionen des ABGB (S. 163). Die geplante Schaffung eines deutschen Volksgesetzbuches wurde schließlich durch die Kriegsumstände verhindert. Am 1. April 1939 übernahm das Reichsgericht die Rechtsprechungshoheit über Österreich; der Oberste Gerichtshof in Wien wurde aufgehoben (S. 164). Das Reichsgericht hatte nunmehr bei Revisionen gegen Urteile österreichischer Gerichte das österreichische ABGB anzuwenden.

 

Sechs Beiträge befassen sich mit dem Einfluss des ABGB auf ausländische Rechtsordnungen. Elisabeth Berger untersucht den Einfluss auf Liechtenstein und die thüringischen Staaten (S. 177-197), Filippo Ranieri auf das italienische Zivilrecht (S. 199-234), Dorota Malec auf Polen in den Jahren 1919-1939 (S. 235-253) und Petra Skřejpková auf das Privatrecht in der Tschechoslowakischen Republik in der Zwischenkriegszeit (S. 255-276). Jean-Louis Halperin vergleicht die österreichische Kodifikation mit den französischen »cinq codes«: Code civil, Code de commerce, Code de procédure civile, Code pénal, Code de procédure pénale (S. 277-290). Carlos Ramos Núñez, Lima, beleuchtet den Einfluss des ABGB auf lateinamerikanische Kodifikationen (S. 291-298).

 

Eine eingehende instruktive Darstellung der religionsrechtlichen Dimension des ABGB von 1811 bis heute gibt Stefan Schima (S. 299-352). Das Eherecht des ABGB (I. Teil, 2. Hauptstück, §§ 44-136) , das im Wesentlichen an das Josephinische Ehepatent von 1783 anknüpfte, enthielt einerseits gemeinsame Bestimmungen für Katholiken, Akatholiken und Juden, andererseits auch spezifische Vorschriften für die Angehörigen dieser drei Gruppen. Erörtert werden insbesondere interkonfessionelle Aspekte des Eherechts des ABGB (S. 309ff.). Nach dem Konkordat von 1855 wurde für Katholiken wieder das kanonische Eherecht maßgeblich, bis durch das Ehegesetz von 1868 die eherechtlichen Vorschriften des Konkordats aufgehoben und die einschlägigen Bestimmungen des ABGB auch für Katholiken wieder in Kraft traten. Eingehend besprochen werden die Auswirkungen des Konkordats von 1933/1934 auf das Eherecht (S. 142ff.). Mit der Einführung des deutschen Ehegesetzes vom 6. Juli 1938 begann dann eine neue Phase in diesem Rechtsbereich.

 

Mit der Öffentlichkeitswirkung des ABGB 1811 und der drei Teilnovellen 1914-1916 befasst sich der gehaltvolle  Beitrag Barbara Dölemeyers (S. 353-374). Die erste ausführliche, sehr positive Besprechung des ABGB stammt von Nikolaus Thaddäus Gönner (1764-1827) aus dem Jahre 1812 (S. 358). Das ABGB diente als Vorbild für Kodifikationsversuche in einigen deutschen Bundesstaaten (S. 362ff.). Nach einer Periode der „Pandektisierung“ des ABGB in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es durch die drei Teilnovellen 1914-1916 zu einem Ausgleich „zwischen Doktrin und Gesetzbuch“ (S. 373).

 

Andreas Deutsch untersucht Wortwahl und Gesetzessprache im ABGB (S. 375-407). Er kommt zum Ergebnis, dass das ABGB im Vergleich zu seinen Vorentwürfen (Codex Theresianus, Entwurf Horten) und zum Galizischen Gesetzbuch einen hohen Grad an sprachlicher Präzision“ erreicht habe (S. 406).

 

Die Arbeiten bieten in ihrer Gesamtheit einen sehr guten Einblick in Entstehungsgeschichte, Charakter und Bedeutung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches und stellen einen wichtigen Beitrag zur europäischen Gesetzgebungsgeschichte dar.

 

Graz                                                                                       Gunter Wesener