Zech, Heiko, Die soziale Frage im Konkursrecht 1879-1900 (= Rechtshistorische Reihe 430). Lang, Frankfurt am Main 2012. 222 S. Besprochen von Hans-Peter Benöhr.

 

I. „Das Bemühen um die Abwendung der wirtschaftlichen Missstände für den größten Teil der Bevölkerung am Ende des 19. Jahrhunderts ist als die soziale Frage bekannt“ (S. 15). Zech erörtert zuerst  „Soziale Frage und Kodifikation“, gemeint ist die Konkursordnung von 1877 (S. 23 bis 108), und sodann „Soziale Frage und Rechtsprechung“, gemeint ist die Judikatur des Reichsgerichts in Konkurssachen von 1879 bis 1899 (S. 109 bis 201).

 

Für die Beziehung „Soziale Frage und Kodifikation“ wertet Zech vor allem die Begründung des Entwurfs, kaum die Verhandlungen des Reichstags und seiner Kommission aus. Reichstagsverhandlungen aus dem Ende des 19. Jahrhunderts werden nur kurz und ohne Originalquellen erwähnt. Wesentliche Anliegen des Gesetzgebers seien der Schutz des Verkehrs, die Sicherheit des Kredits, die Förderung des Handels und das kollektive Wohlergehen im Interesse der gesamten Volkswirtschaft gewesen. Das Ideal der Verlustgemeinschaft der Gläubiger wird als ein Prinzip des Sozialen bezeichnet. Zu den sozialpolitischen Intentionen habe vor allem der Schutz des Schwächeren gehört, insbesondere das Absonderungsrecht im Interesse des Pächters und Mieters und die Konkursvorrechte zur Absicherung der Arbeiter, des Schuldners und seiner Kinder.

 

Die Untersuchung über die Beziehung „Soziale Frage und Rechtsprechung“ lässt „verschiedene Leitlinien in der Praxis des Reichsgerichts“ mit unterschiedlicher „Relevanz der sozialen Frage“ erkennen (S. 200).

 

II. Die Generalregister der Entscheidungen des Reichsgerichts verzeichnen aber noch weitere als die von Zech ausgewerteten 39 Erkenntnisse; über die Auswahl seiner Urteile und Beschlüsse lässt Zech nichts hören; vielleicht hätte auch eine größere Zahl von Analysen keine klarere Antwort auf die sehr allgemein gestellte Frage gebracht. Zech unternimmt keine zahlenmäßige Darstellung der Rechtsstreitigkeiten auf Grund eines Konkurses. Er prüft auch nicht, ob die „verschiedenen Leitlinien in der Praxis“ verschiedenen Senaten zuzuordnen sind.

 

Zech stützt sich für seine Erklärungen und Bewertungen - wie die Fußnoten zeigen -   auf Meinungen der Literatur aus dem Anfang des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, ohne den unterschiedlichen rechtshistorischen Kontext deutlich zu machen.

 

Die Ausführungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sind zu pauschal - wie schon das Hantieren mit der „sozialen Frage“ zeigt -, Zahlen werden nicht genannt, die Konkursstatistik ist unbekannt.

 

III. Trotz mancher Kritik stellt die Arbeit einen wichtigen Baustein für unsere Erkenntnis der Rechtspraxis in den letzten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts dar. Denn Zech arbeitet in zuverlässiger Weise heraus, dass für die Praktiker in der Gesetzgebungskommission, für die Reichstagsabgeordneten und für die Richter am Reichsgericht die gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sowie die Auswirkungen ihrer Gesetze und Urteile auf die tatsächlien Verhältnisse von entscheidender Bedeutung waren.

 

Vor allem verdanken wir Zechs großenteils wörtlichen Zitaten einen Eindruck von der Argumentationsvielfalt des Reichsgerichts. In einigen Urteilen sah sich das Reichsgericht an den Wortlaut des Gesetzes, an die Motive, an den Willen des Gesetzgebers, an den Zweck des Gesetzes gebunden. Aber es prüfte auch „nach der Lage des konkreten Falles“ das „Interesse der Konkursgläubiger“ sowie „besondere Interessen auf der Gegenseite oder auf Seite des Gemeinschuldners“ und rügte die „abstrakte und formalistische Auffassung“ der Vorinstanz. In einem prominenten Fall verhalf es dem „natürlichen Rechtsgefühl“ fast ohne gesetzliche Grundlage zum Durchbruch. Bemerkenswert sind auch seine grundsätzlichen Ausführungen aus dem Jahre 1889 über das Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung. In derartigen Zitaten liegt die wirkliche Überraschung dieser Hamburger Dissertation.

 

Berlin                                                              Hans-Peter Benöhr