Wolf, Gerhard, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Westpolen (= Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts). Hamburger Edition, Hamburg 2012. 528 S. Besprochen von Werner Schubert.
Nach Wolf (zur Zeit DAAD-Lecturer for Modern German History an der Universität von Sussex in Brighton) lässt sich die nationalsozialistische Germanisierungspolitik in den annektierten westpolnischen Gebieten (Danzig, Westpreußen, Ostpreußen, Reichsgau Wartheland und Teile Oberschlesiens) nicht erfassen, „wenn sie als praktizierte Umsetzung von ideologischen Postulaten“ (orientiert an „Volk“ und „Rasse“) angesehen würde (S. 21). Vielmehr ist Wolf zufolge die Germanisierungspolitik auch im Spannungsfeld von ideologischen Prämissen und herrschaftsrationalen Anforderungen zu untersuchen. Im Einzelnen geht Wolf u. a. der Frage nach, wie die Selektionskriterien zur Trennung von „Deutschen“ und „Polen“ formuliert und gehandhabt wurden, wie wichtig die ideologische Begründung für die geforderten oder durchgesetzten Selektionskriterien waren und in welchem Verhältnis die „zeitlich und räumlich nur kurzfristig zu fixierenden Selektionskriterien zu den machtpolitischen Interessen der Institutionen“ standen (S. 22). In diesem Zusammenhang beschränken sich die Untersuchungen auf die Behandlung der einheimischen nichtjüdischen Bevölkerung. Nach einem kurzen Überblick über die weitgehend gescheiterten antipolnischen Germanisierungs- und Umsiedlungspläne Preußens (S. 35ff.) geht Wolf im Wesentlichen chronologisch der Selektionspolitik seit September 1939 in den westpolnischen Gebieten nach, nach der zu entscheiden war, ob der Einzelne als „Deutscher“ einzuordnen war oder als Angehöriger einer „Zwischenschicht“ mit gestaffelten Aufenthalts- und Lebensrechten anzusehen war, oder ob dem Einzelnen diese Rechte als „Fremdvölkischem“ verweigert werden sollten (S. 107). Wichtigstes Selektionsinstrument war die „Deutsche Volksliste“ mit vier Abteilungen, die zunächst im Warthegau (Posen) galt und dann durch eine Verordnung vom 4. 3. 1941 (RGBl. I, S. 118) für den gesamten Osten verbindlich wurde.
Die Zivilverwaltung (Gauleiter) konnte sich im Verlauf des Krieges mit ihrer Sicht der Selektion gegenüber dem SS-Apparat, für den die völkische rassische Zugehörigkeit maßgebend sein sollte, durchsetzen. Die von Himmler angeordnete Forderung, „wonach die Eintragung von Antragstellern ohne erwiesene ‚deutsche Abstammung’ in die Deutsche Volksliste an ihre ‚rassische Eignung’ zu binden war“, wurde in keiner Provinz durchgeführt (S. 421). Die wirtschaftliche Ausbeutung der westpolnischen Gebiete war von der Sicht der Zivilverwaltung aus nur möglich durch eine neben der Exklusion betriebene Inklusions- bzw. Assimilierungspolitik (vgl. hierzu auch die Beratungen im Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht für Nationalitätenrecht, insbesondere die Beratungen des Unterausschusses für Fragen der Assimilation und Dissimilation bei W. Schubert, Protokolle der Akademie für Deutsches Recht, Bd. XIV, 2002, S. 477ff., 566ff., 589ff., 604ff.), welche die Rasse als Selektionskriterium ausschloss (S. 479) bzw. relativierte. Nach der letzten überlieferten Gesamtübersicht von April 1944 umfasste die Deutsche Volksliste in den polnischen Westgebieten ein Drittel der einheimischen Bevölkerung, wobei der jeweilige prozentuale Anteil der in die Deutsche Volksliste aufgenommenen Bevölkerungsteile zwischen den einzelnen Gebieten erheblich divergierte (S. 461). Das Fazit der Untersuchungen lautet: „Wie auch immer die jeweils als notwendig erachtete Assimilation eines Teils der einheimischen Bevölkerung begründet wurde – die Germanisierungspolitik in Polen zeigt, dass nationalsozialistische Bevölkerungspolitik nicht allein auf die Exklusion angeblich rassisch Fremder, sondern in weiten Teilen auf die Inklusion völkisch Gleicher zielte und mit der Deutschen Volksliste ein Assimilationsprogramm hervorbrachte, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht“ (S. 488). Mit der „eingängigen Formel vom nationalsozialistischen Deutschland als racial state“ seien „diese Prozesse nicht zu fassen“ (S. 481). Damit in diesem Zusammenhang keine Missverständnisse entstehen, lässt Wolf keine Zweifel darüber aufkommen, dass die nationalsozialistische Rassen- und Bevölkerungspolitik insgesamt verbrecherisch war; so sei die Situation „für die von den Besatzern zynisch zu Schutzangehörigen deklassierte Bevölkerung“ unerträglich gewesen, „die die volle Wucht der Deutschen Willkür hätte ertragen müssen“ (S. 471; vgl. auch Schubert, a. a. O., S. 615ff., Entwurf einer Verordnung für die Schutzangehörigen des Reichs). Von rechtshistorischem Interesse ist insbesondere die Konzeption und tatsächliche Handhabung der Deutschen Volksliste als vierstufiges Selektionsinstrument (vgl. S. 477ff.). Da die insoweit maßgebenden Erlasse und Durchführungsverordnungen (vgl. S. 303, 377) nicht immer leicht zugänglich sind, wäre es nützlich gewesen, wenn diese Texte in einem Quellenanhang wiedergegeben worden wären. Insgesamt ist das unmittelbar aus den Quellen erarbeitete Werk Wolfs auch für den Rechtshistoriker von Bedeutung, da es wichtige, bisher kaum thematisierte Aspekte der Rechtsgeschichte der polnischen Westgebiete während der nationalsozialistischen Kriegszeit (hierzu die Gesamtdarstellung von Diemut Majer, „Fremvölkische“ im Dritten Reich, 1981) erschließt.
Kiel |
Werner Schubert |