Weißer, Ansgar, Die „innere“ Landesgründung von Nordrhein-Westfalen. Konflikte zwischen Staat und Selbstverwaltung um den Aufbau des Bundeslandes (1945-1953) (= Forschungen zur Regionalgeschichte 68). Schöningh, Paderborn 2012. XII, 819 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Anders als in anderen Bundesländern setzte sich in Nordrhein-Westfalen eine weitgehende Dezentralisierung, Kommunalisierung und Regionalisierung von Aufgaben und Entscheidungskompetenzen durch. Dies erst bewirkte die „innere Landesgründung“ von Nordrhein-Westfalen, das als im August 1946 von der britischen Besatzungsmacht begründetes Bundesland zunächst über keine eigenständigen Traditionen verfügte (S. 4f.). In der Einleitung (S. 1-28) geht Weißer auf die äußere und innere Landesgründung von Nordrhein-Westfalen im Überblick, den Forschungsstand, den Aufbau des Werkes und auf die Fragestellung ein. Hiernach stehen weniger die Ergebnisse der inneren Landesgründung als vielmehr die Umstände der Genese dieser Gründung im Vordergrund: „Beantwortet werden sollen vor allem die Fragen, wie es in Nordrhein-Westfalen zu einer Renaissance der Selbstverwaltung kam und warum sich in der Auseinandersetzung die Vertreter kommunaler und regionaler Interessen gegenüber den Anhängern eines stärker zentralisierten Staatsaufbaues so weitgehend durchsetzen konnten und wie sie dabei agierten“ (S. 15). Zunächst geht es um die Einflüsse der Besatzungsmacht auf die Landesgründung entsprechend ihrem Konzept einer Demokratisierung und Zentralisierung, das zu einer starken kommunalen Selbstverwaltung führte (S. 29-79). Die Revidierte Deutsche Gemeindeordnung vom April 1946 übertrug entsprechend dem britischen Demokratiemodell die politische Führung und die Verwaltung ausschließlich dem gewählten Rat; lediglich die bürokratische Leitung der Verwaltung oblag dem Gemeinde-, Stadt- oder Oberkreisdirektor.

 

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Akteuren der inneren Landesgründung im Hinblick auf ihre parlamentarischen Erfahrungen und ihre kommunalpolitische Verbundenheit insbesondere aus der Zeit bis 1933 (u. a. Landtagsabgeordnete, Mitglieder des Verfassungs- und Kommunalpolitischen Landtagsausschusses, Ministerpräsidenten und Innenminister; S. 81-270). Aufschlussreich für die Thematik des Werkes sind insbesondere die Biographien der Innenminister. In einem weiteren Kapitel beschreibt Weißer die Auffassungen von kommunaler Selbstverwaltung nach 1945 (S. 271-331). Im umfangreichen vierten Kapitel befasst sich Weißer zunächst mit der Entstehung der Bestimmungen der Verfassung Nordrhein-Westfalens über die Selbstverwaltung einschließlich des Einflusses der kommunalen Spitzenverbände, der westfälischen Provinzialverwaltung und der Gemeinden sowie der Gemeindeverbände auf die parlamentarischen Beratungen. Im Rahmen der Diskussion über die Errichtung einer zweiten Kammer war zeitweise auch eine Beteiligung der kommunalen Selbstverwaltung an der Gesetzgebung vorgesehen (S. 411-466). Zwar kam es zu keiner umfassenden Berücksichtigung der kommunalen Selbstverwaltung in der Verfassung; jedoch wurden die Gemeinden und Gemeindeverbände als Grundlage des Landes anerkannt (Art. 78 der Verfassung vom 28. 6. 1950, GVBl.-NRW 1950, 127ff., 132f.). Die Ämter und die Provinzial- bzw. Landschaftsverbände waren in der Verfassung nicht erwähnt. Im zweiten Teil des vierten Kapitels geht Weißer der Entstehung der Landschaftsverbandsordnung Nordrhein-Westfalens vom 12. 5. 1953 (GVBl.-NRW 1953, 271ff.) nach (S. 437-560; hierzu bereits Weißer, in: Staat und Selbstverwaltung. Quellen zur Entstehung der Nordrhein-Westfälischen Landschaftsverbandsordnung von 1953, Paderborn 2003, 6-76). Die 1953 begründeten Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland gingen zurück auf die 1886 gegründeten und in der Weimarer Zeit durch unmittelbar gewählte Abgeordnete verwalteten Provinzialverbände Rheinland und Westfalen, die über ein umfangreiches Aufgabenspektrum verfügten. Am Ende des Jahres 1933 entfiel der provinzielle Parlamentarismus; die Provinzialverbände standen unter der Leitung des Oberpräsidenten, der jedoch die selbständige Erledigung der laufenden Geschäfte dem Landeshauptmann überließ. Mit der Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen übernahm die Düsseldorfer Landesregierung die Aufgaben der rheinischen Provinzialverwaltung, ohne dass eine formelle Auflösung des rheinischen Provinzialverbandes erfolgte (S. 490ff.). Dagegen blieb der Provinzialverband Westfalen auch nach der Begründung Nordrhein-Westfalens bestehen. In der Zeit von 1946 bis zum Erlass der Landschaftsverbandsordnung 1953 war äußerst umstritten, ob die Provinzialverbände ganz aufgelöst oder neu begründet werden sollten. Der erste Innenminister des Landes Walter Menzel (August 1946 bis Juli 1950; SPD) trat für einen Einheitsverband ein, während das Kabinett gegen drei Stimmen für zwei Verbände votierte (S. 518).

 

Die Gesetzesvorlage der Regierung zu einem Landschaftsverbandsgesetz wurde im ersten Landtag nicht mehr abschließend beraten (S. 519ff.), so dass die Regierung am 15. 2. 1951 den teilweise neu gefassten Entwurf im zweiten Landtag wieder einbrachte. Die Errichtung der Landschaftsverbände sollte mit einer Verwaltungsreform gekoppelt werden. Die Regierung hatte erwogen, die Aufgaben der bisherigen staatlichen Mittelinstanz „im Raume der Landschaftsverbände zu einheitlichen Verwaltungen zusammenzufassen, in denen unter der Leitung eines staatlichen Beamten auf der einen Seite die staatlichen Aufgaben, auf der anderen Seite die mehr landschaftlichen Aufgaben unter Zuhilfenahme von Verwaltungsformen der Selbstverwaltung erledigt“ werden sollten (Weißer, Staat und Selbstverwaltung, 420; Begründung des Entwurfs einer Landschaftsverbandsordnung von 1951). Nachdem Franz Meyers (seit 1952 Innenminister) eine solche Zusammenfassung abgelehnt hatte, stand der Verabschiedung der Landschaftsverbandsordnung – das sehr umstrittene Wahlverfahren für die Landschaftsversammlung wurde erst im Gemeindewahlgesetz vom 9. 6. 1954 (GVBl.-NRW 1954, 219, 226) geregelt – am 6. 5. 1953 nichts mehr im Wege (S. 541ff.). Um dem früheren Land Lippe entgegenzukommen, hatte der Kommunalpolitische Ausschuss sich darauf geeinigt, den zweiten Landschaftsverband des Landes nicht, wie noch im Entwurf als „Landschaftsverband Westfalen“, sondern als „Landschaftsverband Westfalen-Lippe“ zu bezeichnen. Mit der Umbenennung der bisherigen Provinzialverbände in Landschaftsverbände sollte verdeutlicht werden, dass es sich nicht um eine Wiederbelebung der früheren Provinzialverbände, sondern „um eine neue Verwaltungsschöpfung mit wesentlich anderem Ziel“ handelte (Weißer, Staat und Selbstverwaltung, S. 418). Die Landschaftsverbände waren auf „kommunale und landschaftliche Aufgaben beschränkt“ und „mit Rücksicht auf die Souveränität des Landes entpolitisiert“ (S. 552).

 

Der Band wird abgeschlossen mit Kurzbiographien der politischen und sonstigen Akteure der Selbstverwaltung (S. 567-635), mit 39 Tabellen insbesondere über parlamentarische Erfahrungen und kommunale Ämter vor 1933 und über das kommunalpolitische Engagement von Landtagsmitgliedern (S. 645-744) sowie mit einem umfangreichen Personenregister. Da die nicht bezifferten Zwischenüberschriften zur Gliederung der Hauptteile des Werkes im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführt sind, bekommt der Leser keinen vollständigen Überblick über den Inhalt des Werkes – ein Sachregister fehlt. Hilfreich wäre es gewesen, wenn Weißer im Anhang auch die wichtigsten Entwurfstexte zur Landschaftsverbandsordnung und zu den kommunalpolitischen Verfassungsbestimmungen abgedruckt hätte (insoweit nur am Rande in der Edition „Staat und Selbstverwaltung“ enthalten). Die mit der inneren Landesgründung eng verbundenen weiteren kommunalpolitischen Gesetze (Gemeinde-, Amts- und Landkreisordnung) sind nur im Abschnitt über die „Akteure“ kurz behandelt worden (S. 210-212); eine etwas detailliertere Darstellung wäre im Interesse eines vollständigeren Überblicks über die Thematik des Werks erwünscht gewesen. Trotz dieser offen gebliebenen Wünsche liegt mit den Untersuchungen Weißers ein wichtiges Werk zur Vor- und Frühgeschichte des größten Bundeslandes vor, das nicht nur für die noch ungeschriebene Rechtsgeschichte Nordrhein-Westfalens, sondern auch insgesamt für die deutsche Verfassungs-, Verwaltungs- und Kommunalrechtsgeschichte der frühen Bundesrepublik von großer Bedeutung ist.

 

Kiel

Werner Schubert