Vogler, Bernard, Geschichte des Elsass (= Urban-Taschenbuch 719). Kohlhammer, Stuttgart 2012. 226 S., Abb., Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Eingegrenzt von Pfälzerwald, Vogesen, Burgundischer Pforte, Jura und dem Rhein im Zentrum Europas liegend, bildet das 190 Kilometer lange und nur 50 Kilometer breite Elsass mit einer Fläche von 8280 Quadratkilometern die kleinste Region Festlandfrankreichs. Im Lauf der Geschichte gelangte dieses in die Départements Bas-Rhin/Niederrhein (Straßburg) und Haut-Rhin/Oberrhein (Colmar) unterteilte Gebiet nur viermal zu administrativ-politischer Einheit: als elsässisches Herzogtum der Etichonen (640 – 740), als französische Provinz Elsass (1680 – 1789), als deutsches Reichsland (1871 – 1918) und als dezentralisierte Region seit 1973. Vor allem Straßburg, Sitz des Europarats, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dokumentiert den Stellenwert, den dieser einst zwischen Frankreich und Deutschland hart umkämpfte und von nationalen Machtinteressen zerrissene Grenzraum heute als europäische Region einnimmt.

 

Bernard Vogler, emeritierter Ordinarius für elsässische Landesgeschichte der Universität Straßburg, hat in den 1990er Jahren und zuletzt 2003 mehrere Darstellungen zur Geschichte des Elsass in französischer Sprache veröffentlicht und gibt nun auf den etwas mehr als 200 Seiten des vorliegenden Bändchens in konventioneller Erzählweise einen Überblick über die politischen, religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen des Raumes. An diesen Strukturen werden die verschlungenen Pfade deutlich, welche die Ausbildung und das Bewusstsein einer wie auch immer gearteten elsässischen Identität ebenso förderten wie hemmten.

 

Die Ersterwähnung des Elsass fällt ins 7. Jahrhundert, wo beim Chronisten Fredegar(ius) um 613 die Bezeichnung Alesaciones für „den Raum zwischen der Burgundischen Pforte und dem Hagenauer Forst“ (S. 36) auftaucht, woraus durch Verkürzung der bis heute gebräuchliche Begriff Alsatia abgeleitet worden sein soll. Ihre erste große wirtschaftliche und kulturelle Blüte erlebte die Region im hohen Mittelalter unter der staufischen Herrschaft, die „goldene Zeit des Elsass“, die „unvergessen (blieb), wie dies schon Matthäus Merian prägnant formulierte: ‚Drey Schlösser auf einem Berg, Drey Kirchen auf einem Kirchhoff, Drey Städte in einem Thal, Drey Offen in einem Sahl, Ist das ganze Elsass überal‘“ (S. 57). Nach den Wirren des Spätmittelalters, wo sich erstmalig „als Folge der burgundischen [Gewalt-]Herrschaft […] die Ausbildung eines ‚welschen‘ Feindbildes und eines eigenständigen elsässischen Landesbewusstseins, bei dem das Elsass trotz seiner herrschaftlichen Zersplitterung als gemeinsames Patria (Vaterland) aufgefasst wurde“ (S. 60), belegen lasse, stellte sich solch ein „goldenes Zeitalter“ erst wieder im 16. Jahrhundert ein, und der Basler Kosmograph Sebastian Münster durfte festhalten, es sei „in dem gantzen Teutschen Landt kein Gegenheit, die diesem Elsass möchte verglichen werden, […] aus Schwaben, Bayern, Burgund und Lothringen lauffen sie dareyn“ (S. 83). In dieser Zeit wirkte der Straßburger Humanismus kulturell „über Literatur und Pädagogik hinaus und bereicherte auch andere Fächer. […] Die Juristen entwickelten das Römische Recht weiter, das wegen der Handelsbeziehungen und seiner Notwendigkeit zur schriftlichen Fixierung des Rechts wertvolle Impulse erhielt“ (S. 77). Der von lothringischen Truppen blutig niedergeworfene, mit sozialen Forderungen einhergehende und durch die Reformation ausgelöste Bauernkrieg von 1525 erkläre „ein langes, über Jahrhunderte dauerndes Ressentiment der Elsässer gegenüber Lothringen“, eine Befindlichkeit, auf die „der spätere Zusammenschluss zu Elsass-Lothringen […] keine Rücksicht“ nehmen sollte (S. 80).

 

Einen „tiefen Bruch in der elsässischen Geschichte“ markiert der Westfälische Friede 1648: Durch „die Erwerbung von Hoheitsrechten durch Frankreich […] (geriet) nach mehr als einem Jahrtausend innerhalb des deutschen Reichsverbandes […] das in autonome Herrschaften mit relativer Eigenständigkeit zersplitterte Elsass in den französischen Einflussbereich“ (S. 95), wobei sich die französische Verwaltung als „effektives Mittel, das Elsass französisch werden zu lassen“ (S. 113), erweisen sollte. François-Henri de Bougs Recueil des édits, déclarations, lettres patentes, arrêts du Conseil d’État et du Conseil souverain d’Alsace (1775) wird heute noch als Rechtsquelle geschätzt. Dennoch blieb „während der gesamten Dauer des Ancien Régime […] das Elsass sehr viel stärker nach Deutschland als nach Frankreich orientiert“, eine Zwitterstellung, die nicht unbedingt Vorteile generierte, denn: „Durch die Zugehörigkeit als deutschsprachiges Gebiet zu Frankreich nahm das Elsass keine Notiz von der französischen Wissenschaftskultur“ und verpasste umgekehrt „durch die französische Annexion die Entwicklungen im deutschen Kulturraum“ (S. 126). Nachdem „die [Französische] Revolution zunächst die Verwaltung dezentralisiert […] und das Elsass sich weitgehend selbst überlassen hatte […], führte Napoléon I. Bonaparte ein stark zentralisiertes Regime ein, das völlig von Paris abhängig war und dessen Verwaltungsstruktur bis 1871 erhalten blieb. Seine Gesetze sollten bis 1982 Bestand haben, erst danach erhielt das Elsass wieder etwas mehr Eigenständigkeit“ (S. 135). Im Lauf des 19. Jahrhunderts spaltete sich die verbliebene elsässische Bevölkerung – Emigrationsbewegungen größeren Ausmaßes sind unter anderem in der Zeit der Französischen Revolution und in den 1820er Jahren nachweisbar - tendenziell „in einen einflussreichen frankophonen und einen konservativen, deutschsprachigen Bevölkerungsteil“ und verstand sich dabei politisch als regional verwurzelte „Urgroßneffen Deutschlands, aber […] treue Söhne der jungen [französischen] Republik“ (S. 156).

 

Der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871 war „der Auftakt zu einer Folge von drei Kriegen, die nun im Abstand von einer Generation immer wieder das Elsass heimsuchten. Seine vor 1870 geborenen und 1945 noch lebenden Einwohner kannten vier Wechsel der staatlichen Ordnung. Diese unklare Zugehörigkeit schuf einen nationalistischen Sog, der die politischen Loyalitäten der Elsässer erschütterte“, und „durch das ganze Land, selbst bis hinein in die Familien, ging eine deutsch-französische Spaltung“, die erst im Europa von heute überwunden scheint (S. 158). Die Annexion des Elsass und sein Status als deutsches Reichsland gemeinsam mit Lothringen führten mehr zu Argwohn denn zu einem Aufleben der elsässischen Deutschlandbegeisterung, dies trotz der vorteilhaften, bis heute im Elsass geltenden und auf Bismarck zurückgehenden Sozialversicherungsgesetzgebung und obwohl sich die verfassungsrechtliche Lage 1911 änderte und es bis dato „das einzige Mal in der elsässischen Geschichte (war), dass ein elsässisches Parlament autonom über Gesetze und Finanzen bestimmen konnte“ (S. 164f.). So weigerten sich „viele junge Elsässer […] in der deutschen Armee ihren Wehrdienst zu leisten, sie verließen das Elsass und traten in die französische Armee ein“, weshalb sich 1914 „zahlreiche elsässische Generale auf französischer, aber nur einer […] auf deutscher Seite“ fanden. Mit Kriegsbeginn drangsalierten sowohl die deutsche als auch die französische Militäradministration die als unzuverlässig eingestufte elsässische Bevölkerung, und nach Kriegsende kategorisierte die neue französische Verwaltung die Einwohner nach ethnischen Prinzipien und trieb 110000 Menschen unter Beschlagnahme ihres Vermögens aus dem Land. Dass die französische Assimilierungspolitik nicht zur Eskalation führte, sei hauptsächlich dem Umstand zuzurechnen, dass der umsichtige erste Generalkommissar des Elsass, Alexandre Millerand, „einen Teil des deutschen Rechts und des vor 1870 eingeführten französischen Rechts […] bei(behielt), das bis heute (2012) als droit local alsacien-mosellan in Kraft geblieben ist“ (S. 178).

 

In der folgenden Zwischenkriegszeit erlangte die elsässische Autonomiebewegung Bedeutung, ein Unruheherd, der sich in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Zentralmacht entlud. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde ein Drittel der elsässischen Bevölkerung nach Südwestfrankreich evakuiert und stand nach dem deutschen Einmarsch „vor dem schwierigen Problem, entweder für eine unbestimmte Zeit in Innerfrankreich als wenig geschätzte Zuwanderer auszuharren oder in die nun der Nazidiktatur unterworfene Heimat zurückzukehren“ (S. 190); zwei Drittel der Evakuierten entschieden sich im Sommer 1940 schließlich für die Rückwanderung und fanden sich dort mit der radikalen Germanisierungspolitik des Chefs der Zivilverwaltung, des badischen Gauleiters Robert Wagner, mit Ausweisungen und mit Zwangsrekrutierungen konfrontiert, ein Thema, das noch 1953 im Zuge des Prozesses um die Kriegsverbrechen von Oradour-sur-Glane erhebliches öffentliches Aufsehen erregen sollte (vgl. S. 203). Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg wurden im Elsass 8300 Personen in Prozessen wegen Kollaboration verurteilt.

 

Als Bilanz hält der Verfasser fest, dass „die vier Jahre nationalsozialistischer Besetzung“ viel mehr „als die 200 Jahre französischer Assimilationspolitik“ zur systematischen Beseitigung des deutschen Elements der elsässischen Volkskultur beigetragen hätten, da nun „für die Dauer von 20 Jahren […] die die französische Sprache sprechenden ‚Hurrapatrioten‘ alle Anspielungen auf deutsche Komponenten der regionalen Kultur als ‚deutschlandfreundlich‘ betrachteten“ (S. 202). Obwohl seit den 1980er Jahren der elsässische Dialekt und die deutsche Sprache wieder „einen bescheidenen Platz in den Schulen erhalten“ hätten, spreche heute „nicht einmal ein Drittel der Schüler […] noch Elsässisch“, und „die deutsche Sprache (verschwindet) zunehmend im öffentlichen Leben“ und werde immer mehr „als Fremdsprache, als ‚Sprache des Nachbarn‘“ oder als folkloristische Attraktion in einem mehrheitlich frankophonen Umfeld wahrgenommen (S. 213) - ein zu denken gebender Abschlussbefund, der das gern bemühte Schlagwort vom Europa der Regionen zumindest relativiert.

 

Die Auswahlbibliographie am Ende dieser kompakten Überblicksdarstellung, die im Übrigen ohne Fußnoten und leider auch ohne jedes Register auskommt, aber eine sich über vier Druckseiten erstreckende Zeittafel anbietet, beinhaltet zum Großteil französischsprachiges Schrifttum. Stellt man den zusammenfassenden Charakter des Werks in Rechnung, wird man dem Verfasser weinenden Auges nachsehen dürfen, dass er manches moderne, häufig der Migrationsforschung entsprungene Hilfsmittel unerwähnt lässt. Vor allem Detlef Brandes‘, Holm Sundhaussens und Stefan Troebsts „Lexikon der Vertreibungen“ (2010) gibt erhellende, das Elsass betreffende Einsichten (Deutsche aus dem Elsass: Verdrängung nach dem Ersten Weltkrieg; Elsässer: NS-Vertreibung), und Gleiches gilt für Klaus J. Bades, Pieter C. Emmers, Leo Lucassens und Jochen Oltmers 2010 in dritter Auflage publizierte „Enzyklopädie Migration in Europa“ (Deutsche Zuwanderer aus den nach dem Ersten Weltkrieg abgetretenen Gebieten in Deutschland; Schweizer Protestanten aus ländlichen Regionen im Elsaß, in Südwestdeutschland und in Brandenburg-Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts). Dazu wären neue Ergebnisse der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung zu berücksichtigen, wie sie beispielsweise Andreas Strippels Studie „NS-Volkstumspolitik und die Neuordnung Europas“ (2011) belegt, welche die unterschiedlichen Auffassungen in der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik im Bezug auf das Elsass bei der Gauleitung und den Exponenten der SS aufzeigt.

 

Die wenigen Schwarzweiß-Abbildungen des Bandes dokumentieren ausgewählte kulturelle Denkmäler und Persönlichkeiten des Elsass: einen römischen Legionsstempel der Legio VIII Augusta aus Straßburg, die in ihrer Herkunft ungesicherte Heidenmauer auf dem Odilienberg, Johann Friedrich Oberlin (1740 – 1826), Pfarrer und Reformer im Steintal, den Revolutionsgeneral Jean Rapp (1771 - 1821), die Straßburger Rheinbrücke 1809, eine zur Erinnerung an die Geburt seines Sohnes 1811 errichtete, sogenannte Napoleonsbank in Schillersdorf, Johann-Georg Humann (1780 - 1842), Straßburger Kaufmann und Finanzminister unter dem „Bürgerkönig“ Louis-Philippe, André Raess (1794 - 1887), Bischof von Straßburg, und das Hagenauer Bibliotheks- und Museumsgebäude im Jahr 1902. Aussagekräftiger, wiewohl durch das kleine Format in ihrer Lesbarkeit beeinträchtigt, sind die insgesamt acht Karten, die das römische Straßennetz, elsässische Klöster, Abteien und Bischofssitze im Mittelalter, die elsässischen Territorien im frühen und hohen Mittelalter sowie im Jahr 1648, die Départementeinteilung 1812, das Reichsland Elsass-Lothringen 1871 bis 1918 und die gegenwärtige Orts- und Gewässerinfrastruktur nebst den aktuellen Verwaltungseinheiten explizieren. Sollte das nützliche Büchlein eine weitere Auflage erleben, wäre mancher störende Fehler in der Flexion (S. 29, 93…), der Groß-/Kleinschreibung (S. 60, 139…), durch unrichtige/fehlende Wörter (S. 149, 187, 190, 202…), in der Setzung der französischen Akzentzeichen oder beim Zitieren (S.10, 114…) zu berichtigen.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic