Tyrolis Latina. Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol. Band 1 Von den Anfängen bis zur Gründung der Universität Innsbruck, Band 2 Von der Gründung der Universität Innsbruck bis heute, hg. v. Korenjak, Martin/Schaffenrath, Florian/Šubarić, Lav/Töchterle, Karlheinz. Böhlau, Wien 2012. 1325 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Während des Altertums war das imperium Romanum lange die bedeutendste politische Macht in Europa und für knapp zwei Jahrtausende, von der Entstehung des römischen Reiches bis in das 18. Jahrhundert, war die lateinische Sprache der Römer nach dem einführenden Vorwort der Herausgeber die wichtigste lingua franca des Halbkontinents. Von der in ihr verfassten Literatur ist gleichwohl nur der kleine, im Altertum entstandene Teil allgemeiner bekannt. Für das im Mittelalter entstandene lateinische Schrifttum sieht es demgegenüber bereits viel schlechter aus und die lateinischen Texte der Neuzeit sind weithin ziemlich unbekannt und schlummern größtenteils in Archiven und Bibliotheken.

 

Diese Lage beruht darauf, dass schon das Mittelalter den Wert der antiken Überlieferung als verlorenes Ideal höher eingeschätzt hat als die Güte des von Nichtmuttersprachlern geschaffenen zeitgenössischen lateinischen Schrifttums und dass deswegen der Zugang zur Fremdsprache von Beginn an über die antiken Quellen mit dem Mittelpunkt anfangs in der lateinisch übersetzten Bibel und den zugehörigen christlichen Begleittexten gesucht wurde. Zunächst in Klöstern und seit dem Hochmittelalter auch in weltlichen Schulen wurde deshalb die allgemeine Schreibsprache vor allem an Hand eines beschränkten Kanons antiker Überlieferung gelernt. Bei Bedarf wurde zwar der Inhalt der Wörter der eigenen Wirklichkeit angepasst und wurden neue lateinische Wörter aus Bausteinen des überkommenen Wortvorrats oder auch unter Einbindung volkssprachlichen Materials in Form neuer Latinisierungen geschaffen, die allgemeine Grundlage blieb aber nach wie vor das Latein der Antike.

 

Schon das Mittelalter versuchte seine Erschließung in stetig verbesserter Art und Weise. Hierauf konnten an seinem Ende Renaissance und Humanismus aufbauen und eine bewusste Rückkehr zu den klassischen Quellen versuchen. Dass selbst sie in der kritischen Gegenwart als noch nicht vollkommen geglückt bewertet wird, zeigt sich allein daran, dass etwa dem Lateinisch-deutschen Handwörterbuch (Immanuel Johann Gerhard Schellers), das der spätere Gothaer Oberlehrer Karl Ernst Georges (Gotha 1806-Gotha 1895) ab der siebten Auflage  (1828) bearbeitet hatte und das ab der 6. Auflage der Neubearbeitung (1869) unter dem Titel Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch veröffentlicht wurde, trotz seiner zuletzt rund 65000 Ansätze am Ende des 19. Jahrhunderts die von Eduard Wölfflin in München entwickelte Idee eines die gesamte Latinität von ihren Anfängen bis etwa 150 n. Chr. lückenlos und danach bis etwa 600 n. Chr. in den lexikalischen Besonderheiten aufarbeitenden Thesaurus Linguae Latinae von fünf deutschsprachigen Akademien entgegengesetzt wurde.

 

Obwohl bei einer ursprünglichen Zeitplanung von fünf Jahren für die Materialsammlung und fünfzehn Jahren für die lexikographische Bearbeitung der erste Faszikel dieses neuen lateinischen Großwörterbuchs bereits im Jahre 1900 erscheinen konnte, sind bisher nur die Buchstaben von A bis M sowie O und P veröffentlicht, während N und R noch gleichzeitig bearbeitet werden und der Rest noch der lexikographischen Gestaltung harrt. Da ein auf 2045 geschätztes Laufzeitende noch nicht verlässlich festgelegt ist, muss sich die Gegenwart dementsprechend selbst für das Latein des Altertums mit der 8. Auflage des Ausführlichen Handwörterbuchs Georges’ und den bereits erschienenen Teilen des Thesaurus linguae Latinae behelfen. Die elektronische Verknüpfung beider in vereinfachter Form dürfte deshalb ein Desiderat aller Freunde des klassischen Latein sein (http://www.koeblergerhard.de/Latein2/LAWVorwort2.html).

 

Für die insgesamt sehr viel umfangreicheren mittelalterlichen lateinischen Texte ist die Lage noch deutlich schwieriger. Zwar schuf hierfür bereits Charles du Fresne, sieur du Cange, im späteren 17. Jahrhundert ein seinerzeit vorzügliches Glossarium ad scriptores mediae et infimae latinitatis, doch genügt dieses modernen kritischen Ansprüchen längst nicht mehr. Die deshalb von der Union Académique Internationale 1919 in der Form der Einsetzung eines Komitees für ein Dictionnaire du Latin médiéval aufgegriffene Idee eines zeitlich und räumlich umfassenden lateinischen Wörterbuchs des Mittelalters wurde in der ursprünglichen Form allerdings rasch aufgegeben, weshalb in verschiedenen europäischen Ländern eigenständige mittellateinische Glossare oder Wörterbücher angestrebt wurden bzw. werden.

 

Von ihnen ist für den deutschsprachigen Bereich am wichtigsten das 1939 vereinbarte Mittellateinische Wörterbuch, das ein Globalwörterbuch des mittelalterlichen Lateins bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf den Neuerungen sein will und von dem der erste Band (1967) die Buchstaben A und B, der zweite Band (1999) den Buchstaben C sowie der dritte Band (2007) die Buchstaben D und E umfasst und dessen vierter Band die folgenden Buchstaben F, G und H bearbeitet. Erfreulicherweise bereits abgeschlossen ist demgegenüber das von Jan Frederik Niermeyer seit 1976 veröffentlichte, 2002 um deutsche Bedeutungsangaben neben dem Englischen und Französischen erweiterte Mediae latinitatis lexicon minus. Die elektronische Verknüpfung beider und weiterer kürzerer Werke (Lathams oder Blaises) in vereinfachter Form dürfte deshalb ein Desiderat aller Freunde des mittelalterlichen und wohl auch des gesamten Latein sein (http://www.koeblergerhard.de/Mittellatein-HP/VorwortMlat-HP.htm).

 

Das Neulateinische der Neuzeit ist demgegenüber lexikalisch so gut wie nicht erschlossen. Dass daran aber grundsätzliches Interesse und auch ein gewisser grundsätzlicher Bedarf besteht, zeigt etwa das zweibändige 1992 und 1997 im Vatikan erschienene Lexicon recentis latinitatis Carl Eggers (mit rund 15000 ANsätzen) J. Bauers Wörterbuch der heutigen Rechts- und Politiksprache aus dem Jahre 2008. Gleichwohl ist für ein neulateinisches Wörterbuch nahezu alles erst noch zu tun.

 

Neben den noch fehlenden Lexika, prosopographischen Nachschlagewerken und Sachwörterbüchern zählen zu den bisherigen Lücken, worauf das Vorwort des vorliegenden Werkes mit besonderem Nachdruck aufmerksam macht, nicht zuletzt auch Literaturgeschichten, die einen Überblick über das lateinische Schrifttum und seine historische Entwicklung ermöglichen würden. Zwar sind für die mittellateinische Literatur entsprechende Arbeiten teils bereits abgeschlossen, teils gerade noch im Erscheinen. Für das Neulatein können die Herausgeber dagegen bisher nur auf einen Companion to Neo-Latin Literature von 1990-1997 verweisen.

 

Weil diese nahezu vollständige Lücke nicht von einem Einzelnen und schon gar nicht in kurzer Zeit geschlossen werden kann, versuchen die Herausgeber die andere vielversprechende Möglichkeit, sich allmählich der nachantiken, insbesondere der neulateinischen Literatur anzunähern, indem die Arbeit nach geographischen Gesichtspunkten aufgeteilt und stückweise bewältigt wird. Hierfür bieten sich neben großen städtischen Zentren insbesondere die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Territorien an. Ein derartiger regionaler Zugang ist bisher noch nicht versucht.

 

Aus diesem Grunde entstand kurz nach Beginn des dritten Jahrtausends in Innsbruck der neuartige Plan einer Geschichte der lateinischen Literatur im historischen Tirol (Nordtirol, Osttirol, Südtirol, Trentino)., die den Gegenstand in seiner ganzen zeitlichen Ausdehnung und generischen Breite unter möglichst vollständigen Erfassung aller gedruckten und handschriftlichen Quellen darstellen sollte. Ein entsprechender Projektantrag wurde im Herbst 2001 vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung gebilligt. Im März 2002 konnte die Arbeit beginnen, 2005 konnte das Projekt um weitere drei Jahre verlängert und 2012 konnte das vorzügliche Ergebnis im Druck vorgelegt werden.

 

Dabei lag die wissenschaftliche Projektleitung in den Händen Karlheinz Töchterles. Für alle organisatorischen Belange war Lav Šubarić verantwortlich. Für das Verfassen der einzelnen Bestandteile der Literaturgeschichte konnten Florian Schaffenrath, Stefan Tilg, Patrik Kennel, Christina Antenhofer, Wolfgang Kofler, Gabriela Kompatscher, Erika Kustatscher, Christine Lehne, Lukas Oberrauch und Josef Riedmann gewonnen werden.

 

Gegliedert ist das beispielhafte Ergebnis in sieben zeitliche Abschnitte (von den Anfängen bis zur Begründung der Tiroler Landeseinheit, von der Tiroler Landeseinheit bis zum Tod Maximilians I., das 16. Jahrhundert bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595), das 17. Jahrhundert bis zur Gründung der Universität Innsbruck (1669), von der Gründung der Universität bis zur Aufhebung des Jesuitenordens, von der Vertreibung der Jesuiten bis zur Revolution 1848 sowie von der Revolution 1848 bis heute. Sachlich beginnt jeder Abschnitt mit einem übergeordneten Epochenbild. Daran werden vielfältige Gattungen wie etwa Dichtung, Rhetorik, Geschichtsschreibung, Biographie, Brief, Musik, kirchliches Schrifttum, Philosophie, Medizin und Naturwissenschaft sowie Rechtswissenschaft angefügt, wovon aber ab 1848 nur noch Dichtung und Prosa verbleiben.

 

Obwohl Tirol nur 0,25 Prozent Europas erfasst, haben die Bearbeiter insgesamt rund 7000 (überwiegend kaum bekannte) lateinische Texte (von etwa 2000 Autoren) aufgespürt, deren Beginn mit einer kurzen Beschwörung um 100 n. Chr. in Veldidena verbunden werden kann und an deren Ende Karl Eggers 1960 vorgelegte Sammlung Tirolensia Latina steht. Etwa 5600 Quellen lassen sich namentlich einem Verfasser zuordnen, während 1400 Texte anonym bleiben. Sie grundsätzlich alle, namentlich etwa zu einem Fünftel und etwas genauer zu gut einem Zehntel der Allgemeinheit in ihren jeweiligen Eigenheiten bekannt zu machen, wird man als meisterliche Leistung einstufen dürfen, in deren Rahmen für die Jurisprudenz naheliegenderweise die überzeugenden Ausführungen Christine Lehnes besonderes Interesse beanspruchen können.

 

Abgeschlossen wird das große, durch mehr als 200 Abbildungen veranschaulichte Werk durch eine hundertseitige Bibliographie, aufgeschlossen durch fünfzigseitige Register der Personen, Orte und Sachen. Ganz am Ende werden die engagierten Autorinnen und Autoren in Kurzbiographien vorgestellt. Möge das allen Freunden des Lateinischen hochwillkommene Werk dazu beitragen, dass sich für 99,75 Prozent Europas gleichwertige Mitstreiter finden, die das lateinische Erbe - im Umfang von aus dem Tiroler Befund hochgeschätzten 2,8 Millionen Einheiten - trotz aller Ökonomisierung des menschlichen Lebens für eine möglichst lange Zukunft sichern helfen.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler