Tirtasana,
Nora, Der gelehrte Gerichtshof. Das Oberappellationsgericht Lübeck und die
Praxis des Zivilprozesses im 19. Jahrhundert (= Forschungen zur neueren
Privatrechtsgeschichte 33). Böhlau, Köln 2012. 432 S. Besprochen von Gerhard
Köbler.
Das
Oberappellationsgericht ist das über dem Appellationsgericht und damit auch
über dem Gericht stehende Entscheidungsorgan und setzt dementsprechend die
entwickeltere, mehrstufige Gerichtsbarkeit voraus. Die Möglichkeit, ein
Oberappellationsgericht der vier freien Städte Bremen, Hamburg, Frankfurt am
Main und Lübeck, das die Verfasserin regelmäßig als OAG bezeichnet, zu
errichten, wurde durch Art. 12 III der deutschen Bundesakte von 1815 geschaffen.
Diese Bestimmun g gewährte den freien Städten, die nicht die für ein eigenes
Oberappellationsgericht eines Mitgliedstaats des Deutschen Bundes an sich
erforderliche Zahl von 300000 Einwohnern aufwiesen, die Ausnahme eines
gemeinsamen Oberappellationsgerichts, wobei die Gerichtsverfassungen der
betroffenen Städte die Zuständigkeit des Oberappellationsgerichts festlegten.
Mit diesem
Oberappellationsgericht befasst sich die von Peter Oestmann angeregte und
betreute Dissertation der Verfasserin, die im Wintersemester 2009/2010 von der
rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster angenommen wurde. Ob
es tatsächlich der gelehrte Gerichtshof (schlechthin) ist, wird man trotz
Jherings Nachruf bezweifeln können. Davon abgesehen ist es aber in jedem Fall
ein sehr interessanter Forschungsgegenstand, wenn auch eher der
Prozessrechtsgeschichte als der Privatrechtsgeschichte.
In der
Einleitung beschreibt die Verfasserin zunächst den Forschungsstand. Dabei
stellt sie fest, dass es der Bedeutung des Oberappellationsgerichts Lübeck
entsprechend „verschiedene Arbeiten zu seiner Rechtsprechung sowie zu der
schwierigen und langwierigen Einrichtung, zu den Richterpersönlichkeiten und
zur Gerichtsverfassung gibt, für die als Quellen aber nur vereinzelt die
Urteile des Oberappellationsgerichts herangezogen wurden“. Weder erfasse die
Darstellung von Polgar (Das Oberappellationsgericht der vier freien Städte
Deutschlands und seine Richterpersönlichkeiten, 2007), inwieweit das gemeine
oder partikulare Recht bei dem Prozess vor dem Oberappellationsgericht eine
Rolle spielte, noch zeige die rein normengeschichtliche Untersuchung, wie das
Verfahren tatsächlich gehandhabt wurde, wie die Rechtswirklichkeit aussah, so
dass Forschungsbedarf hinsichtlich der Rechtsprechung des
Oberappellationsgerichts zu verfahrensrechtlichen Fragen bestehe.
Ziel der
Arbeit ist es nach den Worten der Verfasserin, zu untersuchen, wie der
Zivilprozess in der Praxis ausgestaltet war. Dabei soll im ersten Hauptteil der
Zivilprozess vor dem Oberappellationsgericht Lübeck selbst untersucht werden.
Im zweiten Hauptteil wird aus den Urteilen des Oberappellationsgerichts die
Rechtsprechung bezüglich des Zivilprozesses der unterinstanzlichen Gerichte
herausgearbeitet (beispielsweise wie charakterisieren die Richter selbst den
Prozess?).
Hinsichtlich
der Methode weist die Verfasserin darauf hin, dass die Entscheidungstätigkeit
des Gerichts selbst im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Dabei werden aus
(der Fülle der) 5261 Zivilprozessakten die (724) Fälle ausgewählt, die
erstinstanzlich in Lübeck entschieden wurden, und aus ihnen die (272) Fälle,
die sich mit zivilprozessualen Fragestellungen befassen. Insgesamt wertet sie
auf Grund zusätzlicher Einschränkungen letztlich 149 Fälle im Archiv aus.
In ihrem
ersten Hauptteil über das Verfahren vor dem Oberappellationsgericht untersucht
sie kurz normative Grundlagen und ausführlich die Gerichtsverfassung des unter
den Präsidenten Georg Arnold Heise, Carl Georg von Wächter und Johann Friedrich
Martin Kierulff insgesamt von 1820 bis 1879 wirkenden Gerichts (Besetzung,
Stellung der Richter aus verfassungsrechtlicher Sicht, Aufsicht,
Selbstverständnis, Zuständigkeit in Zivilsachen) und das Gerichtsverfahren (Prozessmaximen,
Parteien, Verfahrensablauf von Einwendung bis Urteil). Der zweite Teil befasst
sich zunächst mit den Rechtsquellen (Partikulargesetze, rechtliche
Gewohnheiten, in den Städten rezipiertes gemeines Recht, Wissenschaft und Natur
der Sache). Danach betrachtet die Verfasserin sehr detailliert die
Rechtsprechung des Oberappellationsgerichts zum Verfahrensrecht der
Untergerichte (Beginn des Prozesses sowie Beweis).
Im Ergebnis
ihrer interessanten Arbeit stellt sie fest, dass die hehren justizpolitischen
Ideale der rechtswissenschaftlichen Diskussion des 19. Jahrhunderts
(Öffentlichkeit, Mündlichkeit) die Rechtspraxis des Oberappellationsgerichts
nicht beeinflussten, weil die Richter im Wesentlichen an das gemeine
Prozessrecht gebunden waren, das sie zusätzlich vertieften. Auf diese Art und
Weise ergibt sich für sie, dass der gemeine Prozess im 19. Jahrhundert kein
allmählich absterbendes Gebilde war, sondern sich in der Rechtsprechung des
Oberappellationsgerichts in letzter später, über Lübeck ausstrahlender Blüte
zeigte. Auch wenn das Zivilprozessrecht schließlich durch die
Zivilprozessordnung von 1877/1879 in wichtigen Grundszügen umgestaltet wurde,
haben sich die Richter des Oberappellationsgerichts doch dadurch verdient
gemacht, dass sie durch eine prinzipiengeleitete Gesamtschau der Rechtsquellen
die Formierung eines einheitlichen überregionalen Prozesses förderten.
Innsbruck Gerhard Köbler