Stuhler, Ed, Die letzten Monate der DDR. Die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit. Ch. Links Verlag, Berlin 2010. 247 S., 75 Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.
Während seines Lebens wird der Mensch auf Grund seiner Sinne Zeuge von Geschehen und zwar mit fortschreitender medientechnischer Entwicklung in wachsendem Umfang. Mit der steigenden Zahl der ihm bekannt werdenden Einzelheiten erhöht sich von selbst auch die Menge des Vergessenen oder nicht mehr abrufbar Gespeicherten. Über die Schließung der unvermeidlichen Erinnerungslücken der Zeitzeugen hinaus dient die literarische Befassung mit vergangenem Geschehen dem möglichen Wissen aller, dem sich der Verfasser sehr verbunden fühlt.
Kurz vor dem Ende des zweiten Weltkriegs geboren in Schönebeck in Sachsen-Anhalt wurde Ed Stuhler nach dem Besuch der Oberschule zunächst Gummifacharbeiter in Riesa, schloss aber 1968 ein Studium an der Ingenieurschule in Magdeburg-Westerhüsen als Chemieingenieur und neben bzw. nach einer Tätigkeit als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit im Traktorenwerk Schönebeck 1978 ein externes Studium für Kultur- und Literaturwissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin ab. Als freiberuflicher Autor verfasste er seitdem kürzere Texte und längere Werke etwa über Erich und Margot Honecker.
Das vorliegende, auf dem Umschlag die Umarmung des schmächtigen Lothar de Maizière durch den mächtigen Helmut Kohl abbildende, im Anhang durch eine Kabinettsliste und eine Chronik vom 8. 1. 1990 (Wir sind ein Volk) bis zum 2. 12. 1990 (erste freie gesamtdeutsche Wahlen seit 1933) dokumentarisch gestützte Werk will in Parallele zu einer Fernsehdokumentation allen, welche die Zeit nicht erlebt oder inzwischen in den Einzelheiten vergessen haben, das Besondere der 199 Tage zwischen dem 18. März 1990 und dem 2. Oktober 1990 auf der Grundlage eigener Eindrücke wie freimütiger Interviews mit damaligen noch bzw. nicht mehr bekannten Politikern (Lothar de Maizière, Klaus Reichenbach, Peter-Michael Diestel, Markus Meckel, Rainer Eppelmann, Gerhard Pohl, Hans-Joachim Meyer, Emil Schnell, Peter Pollack, Christa Schmidt, Jürgen Kleditzsch, Hans-Wilhelm Ebeling, Gottfried Müller, Karl-Hermann Steinberg, Manfred Preiß, Axel Viehweger, Herbert Schirmer, Cordula Schubert, Sabine Bergmann-Pohl, Reinhard Höppner, Richard Schröder, Wolfgang Thierse, Gregor Gysi, Jens Reich, Günther Krause, Matthias Gehler, Alwin Ziel, Almuth Berger, Werner Ablaß, Hans-Jürgen Misselwitz, Gabriele Muschter, Reinhard Nissel, Eberhard Stief und Walter Siegert) einschließlich des Handelns und der Beweggründe der Handelnden näherbringen. In 18 Abschnitten über Laienspieler, Staatsverträge, Strickjacken, Pflastersteine, blühende Stadtlandschaften, Gespräche mit dem Wolf und vieles andere mehr bietet der Verfasser ein eindrucksvolles, vielfältiges Bild eines am ehesten durch Michael Gorbatschow ausgelösten, kaum von jemandem erwarteten, sich 1990 aber in kurzer Zeit mehr und mehr beschleunigenden, mit dem befreienden Beitritt der (ehemaligen) Deutschen Republik zur Bundesrepublik Deutschland im Rahmen einer weltpolitischen Wende endenden Geschehens. Am 3. August 1990 wird dabei anlässlich der Verkündung vorgezogener gesamtdeutscher Wahlen durch Lothar de Maizière auch die damalige stellvertretende Pressesprecherin Angela Merkel sichtbar, die in einem langen und dornigen politischen Weg schließlich als erste Frau an die Spitze der neuen Bundesrepublik Deutschland fand.
Innsbruck Gerhard Köbler