Stolleis, Michael, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 4 Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945-1990. Beck, München 2012. 720 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der unbekannte geschichtliche Anfang des Rechtes zeigt, wie etwa das römische Zwölftafelgesetz der Jahre 451/450 v. Chr. erweist, eine schlichte Einheit, deren bescheidener Umfang an eine Binnengliederung noch nicht denken ließ. Demgegenüber führten die Erörterung der ersten wenigen Regeln durch kundige Angehörige einer sich zu einem Herrscher über ein Weltreich entwickelnden Gemeinschaft in zahlreichen Einzelfällen und die etwas später einsetzende herrschaftliche Schaffung vieler Regeln zu einer derartigen Ausweitung des Gegenstands, dass zumindest eine Gegenüberstellung des die Allgemeinheit betreffenden Rechtes und des den Einzelnen betreffenden Rechts angesprochen werden konnte. Zu einer grundlegenden systematischen Scheidung des gesamten Rechtes in einzelne Teile kam es allerdings während des gesamten Altertums nicht.

 

Sie blieb auch noch aus, als im Hochmittelalter das römische Recht in Italien wiederentdeckt und wiederbelebt wurde. Deswegen ließ der Verfasser seinen vorzüglichen Plan einer Geschichte des öffentlichen Rechtes in Deutschland mangels literarischer Masse auch noch nicht im Mittelalter beginnen. Selbst in der frühen Neuzeit lassen sich die ersten Anfänge nicht wirklich sicher datieren, so dass der Verfasser mit den frühesten Spuren einsetzt, unter denen er die Disputationen von Arnold Clapmarius in Altdorf ab etwa 1600 zählt.

 

Spätestens zu dieser Zeit wird aber auch eine Aussonderung des Prozesses aus dem gesamten Recht, wie ihn schon im Mittelalter zahlreiche ordines und dann auch Richtsteige und Ähnliches vorbereiten, und eine Verselbständigung der Strafen, wie sie sich in Halsgerichtsordnungen einschließlich der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532  zeigen, sichtbar. Aus heutiger systematischer Sicht wären Prozess und Strafe wohl dem öffentlichen Recht einzuordnen, doch wäre dieses dann noch schwieriger zu fassen. Deswegen hat sich der Verfasser verständlicherweise schon von Anfang an in seinem großen Plan der Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts auf Reichspublizistik und Policeywissenschaft, Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft und Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft beschränkt und dies nach dem überspannenden Gesamttitel in den jeweiligen Untertiteln seiner Bände auch eindeutig zum Ausdruck gebracht.

 

Sein riesiges Vorhaben hat der Verfasser mit beeindruckender Arbeitskraft in einem glücklicherweise von äußeren Brüchen wenig beeinflussten langen und intensiven Arbeitsleben erfolgreich vorangetrieben. 1988 konnte er einen ersten Band vorlegen, 1992 einen zweiten Band und 1999 einen dritten Band. Danach konnte Wilhelm Brauneder die rezensierende Vorstellung des dreibändigen Werkes insgesamt mit dem Umstand rechtfertigen, dass es mit dem dritten Band bzw. chronologisch mit dem Jahre 1945 offenkundig abgeschlossen sei, weil der ältere Plan einer Fortsetzung bis zum Jahre 1990 wegen der Fülle des Stoffes aufgegeben habe werden müssen.

 

Dies wäre ein bedauerlicher Verlust gewesen, weil damit der beste Kenner der Vorgeschichte von einem wichtigem Stück einer imponierenden Arbeitsleistung Abstand genommen hätte. Erfreulicherweise ist es nicht dazu gekommen. Vielmehr hat Michael Stolleis trotz der nochmals erkennbaren Vermehrung der Stofffülle seinem Gesamtwerk einen gewichtigen vierten Band hinzugefügt und der Verlag hat ihn dabei bestmöglich unterstützt.

 

Gegliedert ist dieser (vielleicht doch erst) vorläufige Abschluss in sieben Kapitel. Sie betreffen im ersten Kapitel Wiederaufbau und Selbstfindung (zur Forschungslage, Methodik, Stunde Null, Rechtslage Deutschlands, Wiederaufbau der Universitäten Berlin, Bonn, Erlangen, Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau, Göttingen, Hamburg, Heidelberg, Kiel, Köln, Mainz, Marburg, München, Münster, Saarbrücken, Speyer, Tübingen, Würzburg, Neu- und Wiederbegründungen der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, des deutschen Rechtshistorikertags, des deutschen Juristentags und der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, alte und neue Zeitschriften des öffentlichen Rechts im Allgemeinen wie des Verwaltungsrechts im Besonderen), sowjetische Besatzungszone und erste Jahre der (ehemaligen) DDR (Deutschen Demokratischen Republik) mit den Institutionen Berlin, Halle-Wittenberg, Jena, Leipzig und außeruniversitären Institutionen). Im zweiten Kapitel werden Grundgesetz und Staatsrechtslehre einschließlich des Bundesverfassungsgerichts erörtert, im dritten Kapitel Rechtsstaat und Sozialstaat im „Wirtschaftswunder“ einschließlich Babelsbergs und der Folgen in der DDR.

 

Danach widmet sich der Verfasser den Lehrjahren der Demokratie, wobei er die Staatstheorie in einer Spannung zwischen etatistischer Tradition und pluralistischer Öffnung sieht. Das fünfte Kapitel behandelt Unruhe (1968), Expansion und Neuorientierung (nach 1968). das sechste Kapitel Konsolidierung und Krisenmanagement einschließlich des Staats- und Verwaltungsrechts der DDR im Übergang von Ulbricht zu Honecker. Am Ende werden im siebten Kapitel Europäisierung seit 1949 und deutsche Einheit (1989/1990) eingebunden, wobei sich dem Verfasser schließlich die Frage eines globalen Rechtes und eines Verschwinden des Staates stellt.

 

Am Schluss der imponerenden, Universitäten und Lehrstühle, Personen und Werke, Institutionen und Zeitschriften umfassend verzeichnenden Leistung überlegt der erfolgreiche Verfasser die Möglichkeit eines ius commune publicum und fragt nach den Charakteristika eines deutschen öffentlichen Rechts. Dass er dabei wie auch sonst jeweils seine persönlichen Erfahrungen verwendet und trotz ehrlichen Bemühens um Objektivität nur zu subjektiven Einschätzungen und Werten gelangen kann, kann nur den wirklich stören, dem eine übermenschliche vollständige Entsubjektivierung möglich ist. Im Übrigen ist der Markt der Meinungen grundsätzlich offen und jedermann kann durch seinen Beitrag einen Ausgleich an beliebiger Stelle versuchen, doch wird dies angesichts des vielfältigen Inhalts und Gewichts der auf dem Umschlag des vierten Bandes mit einer Abbildung des Mauerfalls am Brandenburger Tor geschmückten Geschichte des öffentlichen Rechts des Verfassers nicht leicht fallen, selbst wenn mit einem imposanten Vorbild vor Augen vieles einfacher ist als an einem bahnbrechenden Anfang.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler