Schneppen, Heinz, Walter Rauff. Organisator der Gaswagenmorde. Eine Biografie. Metropol Verlag, Berlin 2011. 232 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Zielrichtung der zeitgeschichtlichen Forschungen des bundesdeutschen Diplomaten im Ruhestand mit profunder Südamerika-Erfahrung Heinz Schneppen ist die Entmythisierung der Flucht- und Nachkriegsgeschichten prominenter nationalsozialistischer Täterfiguren durch genaue quellenkritische historische Arbeit. Im Fokus dieser seiner intensiven Bemühungen, erweisbare Tatsachen von bloßen Legenden oder gar Erfindungen zu trennen, standen zunächst die angebliche (Fluchthilfe-)Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen („Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte“, 2007) und der als „Schlächter von Riga“ in den Medien präsente, gebürtige Grazer Eduard Roschmann („Ghettokommandant in Riga -  Eduard Roschmann. Fakten und Fiktionen“, 2009). In seiner jüngsten Publikation beschäftigt sich der Verfasser mit dem Werdegang Walther Rauffs (1906-1984), eines Marineoffiziers, der in Himmlers Schutzstaffel zuletzt zum Standartenführer und vorübergehend zum Gruppenleiter Technik im Berliner Reichssicherheitshauptamt (RSHA) avancierte, wo er, wie von ihm gezeichnete Akten ausweisen, zwischen September 1941 und Ende Juni 1942 als „Schreibtischtäter“ unter anderem mit der Entwicklung, Optimierung und Zuteilung der Gaswagen – luftdicht abgeschlossener Kastenwagen, in denen die Opfer während der Fahrt mittels Einleitung der Auspuffgase getötet wurden - befasst war. „Auf über eine halbe Million“ werde die Zahl der Menschen geschätzt, die auf diese Art vergast wurden, bevor die Wagen als jenes „Bindeglied zwischen ‚Euthanasie‘ und Genozid“ (S. 22),  von dem im Übrigen bislang keine photographischen Originalaufnahmen eruiert werden konnten, schließlich „wie die Dinosaurier“ verschwanden, um „einer entwickelteren Art Platz (zu machen), nämlich den Lagern, die wie Todesfabriken funktionierten“ (S. 47).

 

In Rauffs Laufbahn bildet der sogenannte Gaswagenkomplex nur eine vorübergehende Episode; als Leiter einer Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei ist der umtriebige SS-Führer sodann in Tunesien (1942/1943), danach in Oberitalien eingesetzt, wo er unter anderem gute Kontakte zu katholischen Würdenträgern unterhält, die sich bei Kriegsende und nach seiner Flucht aus dem Lager Rimini im Dezember 1946 als hilfreich erweisen. Über den Nahen Osten, wo ihm nach US-amerikanischen Berichten des CIC (Counter Intelligence Corps) und der CIA (Central Intelligence Agency) unter anderem geheimdienstliche Tätigkeit für die Briten und wahrscheinlich sogar für den israelischen Geheimdienst nachzuweisen sind, kehrt der ehemalige SS-Offizier gegen Jahresende 1949 nach Italien zurück und soll sich in Genua in Begleitung seiner Angehörigen zunächst nach Ecuador eingeschifft haben. 1958 wandert die Familie ins wirtschaftlich besser entwickelte Chile aus, wo Walther Rauff als Geschäftsführer eines Großbetriebs in Punta Arenas an der Magellanstraße bis an sein Lebensende 1984 als geachteter und angesehener Mann ein zurückgezogenes Leben führt – dies trotz aller Bemühungen der bundesrepublikanischen Justiz, Rauffs habhaft zu werden und ihn wegen seiner Vergangenheit gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen.

 

Die Ausführungen Heinz Schneppens zum Auslieferungsverfahren und zu den letztendlich vergeblichen diplomatischen Bemühungen, alternativ eine Ausweisung des Beschuldigten aus Chile zu erreichen, bilden den rechtshistorisch relevanten Kern dieser Täterbiographie. Um die drohende Verjährung der Strafverfolgung zu hemmen, wurde gegen Walther Rauff am 30. Juni 1960 ein erster Haftbefehl vom Amtsgericht Hannover wegen §§ 211, 49 StGB erlassen, dem im Hinblick auf eine Auslieferung ein zweiter am 13. März 1961 folgte; nach Prüfung der Modalitäten wird das Auslieferungsersuchen schließlich am 3. Dezember 1962 dem chilenischen Außenministerium überreicht.

 

In dem folgenden Verfahren, in dem die Rechtsprofessoren  Eduardo Novoa Monreal als Bevollmächtigter der deutschen Regierung und Enrique Schepeler als Rechtsvertreter Rauffs agierten, sollte sich die Frage der Verjährung zum zentralen Aspekt entwickeln. Denn während nach deutschem Recht noch keine Verjährung eingetreten war, war diese nach chilenischem Recht bereits erfolgt. Da zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Chile überdies kein bilateraler Auslieferungsvertrag bestand, musste die Rechtslage nach den Bestimmungen des Código de Derecho Privado (Código Bustamante) vom 18. Februar 1928 und der Konvention von Montevideo vom 26. Dezember 1933 beurteilt werden. Am 21. Februar 1963 ergeht durch den Präsidenten der Corte Suprema, Rafael Fontecilla, als Einzelrichter das Urteil derersten. Instanz, das zum Schluss kommt: „In Übereinstimmung mit dem ‚Willen‘ des Gesetzes“ befinde sich „diejenige Interpretation, die am ehesten der Zielsetzung der Auslieferung entspricht“ (S. 145), womit es den „moderneren“ Bestimmungen der Konvention von Montevideo Vorrang vor jenen des Código Bustamante einräumt. Das Urteil hält nicht: In der Revisionsverhandlung vor dem ersten Senat des Obersten Gerichts räumen die Richter in der Normenkonkurrenz dem Código Bustamante den Vorrang ein und entscheiden sich am 26. April 1963 mit einem Stimmenverhältnis von 6 : 1 für eine Verwerfung des Auslieferungsbegehrens wegen Verjährung nach chilenischem Recht. Damit war der Rechtsweg erschöpft und eine causa finita geschaffen, die alle Initiativen der Bundesrepublik Deutschland, unter geänderten politischen Vorzeichen doch noch zum gewünschten Erfolg zu gelangen, an dieser „unangreifbare(n) Rechtsposition“ (S. 205) scheitern ließ.

 

Dies galt auch für Bestrebungen, in weiterer Folge Chile mit Hilfe der USA diplomatisch unter Druck zu setzen und zu einer Ausweisung des deutschen Staatsbürgers Rauff zu bewegen, und auch spektakuläre öffentliche Aktionen Beate Klarsfelds vor Ort erwiesen sich als kontraproduktiv. Staatspräsident Augusto Pinochet hat den chilenischen Standpunkt treffend präzisiert: „Das Oberste Gericht des Landes hat entschieden, dass Rauff in Chile bleiben kann. […] Ausweisung ist eine innere Angelegenheit. Der Punkt ist, dass Rauff in Chile nichts getan hat, was ihn zu einer unerwünschten Person machen würde“ (S. 206f.). Walther Rauffs Tod am 14. Mai 1984 im Alter von 77 Jahren machte allen Bemühungen um eine Strafverfolgung ein Ende; seine Äußerungen offenbaren - wie die der meisten nationalsozialistischen Täter – keinerlei Einsicht persönlicher Schuld.

 

Die ausführliche Darstellung und Interpretation dieser Rechtsangelegenheit ist einer der unbestreitbaren Vorzüge der vorliegenden Studie. Darüber hinaus bleibt der Verfasser seiner kritischen Rationalität, die schon seine bisherigen Arbeiten prägt, auch in der aktuellen Publikation treu, indem er versucht, den Protagonisten auf nachweisbare Fakten zu reduzieren und von üppig wuchernden Spekulationen zu befreien. So führt er überzeugende militärische und politische Argumente gegen die Ansicht Klaus-Michael Mallmanns und Martin Cüppers‘ („Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina“, 2006) ins Treffen, wonach Rauffs Einsatz in Afrika Teil eines konkreten Planes gewesen sei, auch im Nahen Osten die „Endlösung der Judenfrage“ durchzuführen; schon „das Selbstverständnis des ‚Afrikakorps‘ wie die Rücksicht auf den italienischen Verbündeten“ ließen eine solche Option „als eine Chimäre erscheinen“ (S. 54). Des Weiteren sei auch die Frage einer behaupteten Tätigkeit Rauffs für den chilenischen Geheimdienst DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) bei genauerer Prüfung der Unterlagen „bis heute letztlich ungeklärt“, obwohl seine Verbindung zur berüchtigten Colonia Dignidad, die ihre Infrastruktur DINA zur Verfügung gestellt habe, gesichert erscheine (S. 170f.). Für mögliche Kontakte Rauffs zum deutschen Bundesnachrichtendienst wiederum gelte, so Schneppen, ebenso „als gesichert […], dass zwischen Rauff und dem BND eine Arbeitsbeziehung bestand“ (S. 174). An anderer Stelle wird nachvollziehbar, wie sich Annahmen über mehrere Stationen zu scheinbar wissenschaftlicher Erkenntnis verdichtet haben, so die unbewiesene Behauptung, der SS-Führer habe für namhafte schwerstbelastete Nationalsozialisten, darunter Adolf Eichmann, die Fluchtwege organisiert: „Diese Geschichte hat erstaunliche Wege zwischen Journalismus und Wissenschaft genommen. Wiesenthal erfindet die Story von Rauff als dem ‚Fluchtregisseur‘ der großen Naziverbrecher, der Spiegel-Korrespondent kolportiert die Version, die jetzt auf ungenannten ‚US-Erkenntnissen‘ beruht. Steinacher übernimmt [in seiner Innsbrucker zeitgeschichtlichen Habilitationsschrift aus 2008; W. A.] vom ‚Spiegel‘-Autor Substanz wie Formulierung. Jetzt ist die Nachricht akademisch rezipiert“ (S. 213).

 

Der Verlag, der unter anderem auch die „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ und das „Jahrbuch für Antisemitismusforschung“ herausgibt, hat das handliche, mit 37 Schwarzweiß-Abbildungen (Photographien und Dokumenten-Faksimile) illustrierte Paperback mit einem Literaturverzeichnis auf dem Stand der Forschung und einem Personenregister ausgestattet. Die Quellenbelege sind in einem praktischen Fußnotenapparat erfasst; eine zusammenfassende Auflistung der verwendeten Archivalien fehlt, wäre aber von Nutzen.

 

Kapfenberg                                                  Werner Augustinovic