Schmidt-Degenhard, Tobias, Vermessen und Vernichten. Der NS-„Zigeunerforscher“ Robert Ritter (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 76). Steiner, Stuttgart 2012. 246 S., 8 Abb. Besprochen von Martin Moll.

 

Im Gegensatz zu seinem Arztkollegen Josef Mengele ist Robert Ritter (1901-1951), der gleich Mengele sowohl einen medizinischen als auch einen philosophischen Doktortitel erworben hatte, heute weitgehend vergessen. Obwohl es bereits einige (wenig rezipierte) Arbeiten über Ritter gibt, ist Schmidt-Degenhard der erste, der in seiner Tübinger medizingeschichtlichen Dissertation eine umfassende Lebens- und Werkbeschreibung vorlegt. Als Quellen dienten insbesondere Ritters Publikationen, diverse Studenten-, Promotions- und Habilitationsakten mehrerer Universitäten sowie das zeitgenössische eugenische bzw. tsiganologische Schrifttum.

 

Ritter entwickelte von Jugend an vielfältige, disziplinenübergreifende Interessen, die seine Kernfächer Medizin, Psychiatrie, Psychologie und Pädagogik ergänzten. Verstörend sind die Belege, dass der spätere „Zigeunerforscher“ zu Beginn seiner Karriere von durchaus idealistischen und humanistischen Motiven geleitet war und sich insbesondere als Jugendarzt profilierte. Ausgerechnet während einer Tätigkeit als Assistenzarzt in der Schweiz 1931/1932 geriet sein Idealismus ins Wanken, da er die Therapieresistenz eines Teils seiner Patienten einsehen musste. Wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers wechselte Ritter im Sommer 1933 an die Universitätsnervenklinik Tübingen, wo er sich Fragen der Eugenik und der Vererbungslehre zuwandte – Themen, die damals Hochkonjunktur hatten.

 

1937 habilitierte sich Ritter in Tübingen mit seinem Buch „Ein Menschenschlag“. Darin vertrat er die These, die von ihm am Beispiel einer württembergischen Region untersuchten, rezenten kriminellen sowie vagabundierenden Unterschichten entstammten aus den immer gleichen Familien, die sich bis zu zehn Generationen in die Vergangenheit zurückverfolgen ließen; ihr deviantes, in der Sprache der Zeit asoziales Verhalten sei folglich erblich bedingt und widerstehe allen Besserungsversuchen, so dass andere Lösungen angedacht werden müssten. Schmidt-Degenhard analysiert diese nicht gerade originelle Schrift in allen ihren Aspekten, weist ihre Unwissenschaftlichkeit nach und bettet sie in den zeitgenössischen „rassekundlichen“ Diskurs ein.

 

Ob Ritter, wie sein Biograph behauptet, mit dieser Schrift der Durchbruch gelungen war, darf man bezweifeln, konnten doch lediglich vier, z. T. auch kritische Rezensionen des „Menschenschlags“ ermittelt werden, wovon zwei noch dazu in derselben Zeitschrift erschienen (S. 139f.). Es lag wohl auch an der in eine Sackgasse geratenen, akademischen Karriere Ritters (der übrigens niemals der NSDAP beitrat), dass er bald nach seiner Habilitation an das Reichsgesundheitsamt nach Berlin wechselte, wo er mit der Erstellung von Gutachten über sogenannte Asoziale und Zigeuner beauftragt wurde. Leider macht die Arbeit nicht recht klar, welche Inhalte die von Ritter und seinem Team erstellten, in die Tausende gehenden Gutachten aufwiesen und welche unmittelbaren Konsequenzen sie im Einzelfall hatten. Ebenso wenig werden konkrete Belege darüber präsentiert, ob Ritter die möglichen Folgen negativer Gutachten bewusst waren.

 

Der Band schließt mit Ritters kurzer Nachkriegskarriere: Niemals strafrechtlich verfolgt, gelang es ihm dank der üblichen, von Kollegen usw. beschafften „Persilscheine“, in Frankfurt am Main als Stadtarzt unterzukommen. Wegen langer Krankheit und seines frühen Todes trat er dort jedoch kaum in Erscheinung. Es folgen eine Zusammenfassung, ein Schriftenverzeichnis Ritters, Daten zu dessen Leben und akademischen Karriere, sowie Bibliographie und Register.

 

Trotz einer Reihe interessanter Aspekte kann die Arbeit nicht wirklich überzeugen. Dies liegt nicht zum Geringsten an dem weitschweifigen, überladenen und daher redundanten Schreibstil des Verfassers, der auch irrelevanteste Details wie die Krankengeschichte seines Protagonisten in allen ihren Verzweigungen ausbreitet. Obwohl der Band kaum 200 Seiten Text umfasst, ist seine Lektüre eine mühevolle Angelegenheit. Die Befunde sind wenig sensationell: Der durchaus opportunistische und karrierebewusste Ritter war zweifellos ein Kind seiner Zeit, aber keineswegs von Beginn an auf den eugenisch-rassekundlichen Diskurs, geschweige denn auf die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten festgelegt. Die irritierende Wandlung vom idealistischen Jugendarzt zum Selekteur macht diese Biographie nicht besser verständlich, zumal ihr Schwerpunkt auf Ritters Schriften und nicht auf seiner gutachterlichen Tätigkeit liegt.

 

Graz                                                                                                              Martin Moll