Rothländer, Christiane, Die Anfänge der Wiener SS. Böhlau, Wien 2012. 653 S., Abb., Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im öffentlichen Bewusstsein verknüpft sich mit der nationalsozialistischen Parteigliederung der Schutzstaffel (SS) gemeinhin die Vorstellung einer elitären, an biologistischen Normen erlesenen Kampftruppe, die bereit war, die NS-Ideologie unter Geringschätzung des eigenen Lebens durch radikale Ausmerzung zum Feind erklärter Bevölkerungsgruppen schonungslos in die Tat umzusetzen. Einen Weg, die Plausibilität dieses von der Selbststilisierung des „Schwarzen Ordens“ ebenso wie vom Jahrhundertverbrechen des Holocaust geprägten, statischen Bildes zu hinterfragen, stellt die Erforschung der Anfänge dar, die selbst für die SS im „Altreich“ erst rudimentär vorliegt und nun durch Publikationen wie die gerade erschienene Untersuchung von Sebastian Hein („Elite für Volk und Führer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925-1945“, München 2012) langsam erhellt wird. Noch mehr trifft dies für die Frühgeschichte der SS in Österreich zu, eine Forschungslücke, in die nun Christiane Rothländer, Historikerin und Lektorin am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, mit der vorliegenden, umfangreichen Studie zur Wiener SS zwischen 1930 und 1938 stößt.

 

Fehlenden, die Organisationsstrukturen betreffenden Unterlagen ist es geschuldet, dass, wie die Forscherin ausführt, „eine Rekonstruktion der Geschichte der Wiener SS-Standarte nur über die Untersuchung der biografischen Netzwerke möglich“ sei (S. 18), zusammengeführt aus Ausbürgerungsakten, Berichten der Bundes-Polizeidirektion und der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit, den Dienstalterslisten der SS, Zeitungsberichten, den Personalakten des Berlin Document Centers (BDC) im Bundesarchiv Berlin und den Gauakten im Österreichischen Staatsarchiv sowie im Wiener Stadt- und Landesarchiv. Gestützt auf dieses stark personenzentrierte Material gelingt es der Verfasserin, ein zwar detailverliebtes, aber dennoch konsistentes Bild der Entwicklung nicht nur der Wiener SS, sondern in Ansätzen auch der SS in den Bundesländern bis zum „Anschluss“ zu zeichnen. Dieser Weg beginnt im Jahr 1930 mit dem Auftrag Heinrich Himmlers an den SA-Mann Walter Turza, eine SS-Einheit in Wien zu organisieren (Turza sollte diese dann viel später, ab März 1944 und vermutlich als ihr letzter namentlich bekannter Kommandeur, im Rang eines SS-Standartenführers ein weiteres Mal vertretungsweise übernehmen), die im Frühjahr 1932 in den Auseinandersetzungen um die Wiener Gemeinderatswahlen erstmalig den Tod eines politischen Gegners zu verantworten hat. Mit der Reorganisation im Herbst 1932 gelangte der Reichsdeutsche Walter Graeschke an die Spitze des österreichischen SS-Abschnitts; unter seiner Ägide kam es zu internen Querelen und zu einer Krise der Wiener SS, ausgelöst von einer Unterwanderung der Truppe durch Spitzel der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung“. Nach einer forcierten militärischen Ausbildung in ihrer Schlagkraft aufgerüstet, schlug die SS im Jahr 1933 einen durch Bombenanschläge gekennzeichneten, offen terroristischen Kurs ein, der im Juni im Verbot der NSDAP in Österreich und im Juliputsch des Jahres 1934, dem Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zum Opfer fiel, seine Kulminationspunkte erreichen sollte. Die Jahre von 1933/34 bis 1938 figurieren dann weitgehend als „Exiljahre“ der österreichischen SS-Angehörigen im reichsdeutschen Asyl, wohin viele die Flucht antraten.

 

Christiane Rothländer bindet dieses Geschehen immer wieder sporadisch in die umfassenderen Kontexte der deutsch-österreichischen politischen Beziehungen, der innenpolitischen Entwicklung in Österreich und des Verhältnisses der SS zur politischen Leitung der NSDAP ein. Neben der breiten Schilderung der kriminellen Aktivitäten kommen Aufnahmekriterien, Dienstbetrieb und Geldverwaltung der Wiener SS ebenso zur Sprache wie der organisatorische Ausbau, die Befehlswege und die Situation der österreichischen SS-Flüchtlinge in Deutschland. Deutlich wird, dass in der Frühzeit der 11. SS-Standarte (eine Standarte entspricht in der Größenordnung einem Regiment, W. A.) „die Auswahlkriterien für eine Aufnahme in die SS kaum eine Rolle“ spielten (S. 578), was ihrem Wachstum, aber nicht ihrer Geschlossenheit förderlich war; von einer elitären Auslese kann sohin mitnichten die Rede sein. Erst 1934 wurde mit der ausschließlich aus Angehörigen der Exekutivkörper bestehenden 89. SS-Standarte ein zusätzlicher, homogener und militärisch schlagkräftiger Verband ins Leben gerufen. Beide Wiener SS-Standarten waren in den Juliputsch des Jahres 1934 involviert, während die SS in den Bundesländern diesen weitgehend „versäumte“. Die „Österreicher“ agierten in jenen entscheidenden Tagen offenbar führungslos im freien Raum, ein Zustand, der Rätsel aufgibt. Die Verfasserin berichtet vom „Abbruch der SS-Befehlslinien“ (S. 462) infolge einer intendierten, aber anscheinend nicht realisierten Personalrochade Heinrich Himmlers in der Führung des zuständigen Oberabschnitts Donau (OaD) zwischen Alfred Rodenbücher und Wilhelm Koppe.

 

Auch der rechtsgeschichtlichen Forschung kann der Band mit relevanten Erkenntnissen dienen. Die Verfasserin hat im Kapitel 8 die Polizei- und Gerichtspraxis im Hinblick auf die unterschiedliche Durchführung von Verfahren je nach politischer und/oder „rassischer“ Zugehörigkeit ab Herbst 1932 untersucht. So „kann festgestellt werden, dass etwa im Bereich der Wiener SS ein Großteil der Angreifer überhaupt nicht der Staatsanwaltschaft angezeigt bzw. mit geringen Geldstrafen polizeilich abgemahnt wurde oder gewalttätige Aktionen von Nationalsozialisten erst gar nicht vor Gericht verhandelt wurden, da die Täter angeblich nicht ausgeforscht werden konnten bzw. die Staatsanwaltschaft die Untersuchung einstellte. […] Ein parteiisches Verhalten der Wiener Richterschaft lässt sich auch hinsichtlich ‚marxistischer‘ Entlastungszeugen und Entlastungszeuginnen feststellen, die im Gegensatz zu nationalsozialistischen zumeist gar nicht vor Gericht zugelassen wurden. […] Auch dem Diensteid von Wachebeamten wurde in Prozessen gegen ‚Marxisten‘ unbedingter Glaube geschenkt, dieser jedoch im Falle von nationalsozialistischen Beschuldigten immer wieder angezweifelt. Fragen der Verteidiger an nationalsozialistische Zeugen und Zeuginnen nach ihrer politischen Einstellung wurden von der Richterschaft als irrelevant abgewiesen, während dies bei ‚marxistischen‘, sofern sie überhaupt zugelassen wurden, sehr wohl geschah“ (S. 230f.). Die Verfasserin referiert konkrete Fälle und benennt die auf dem rechten Auge blinden Wiener Richter, wie Rudolf Delapina, Alois Osio, Karl Piska, Rudolf Kunze, Hans Bäcker und Johann Powalatz, namentlich, weiß aber auch von Richtern wie Theodor Mayer-Maly oder Josef Standhartinger zu berichten, „die dem Rechtsruck innerhalb der Justiz nicht nachgaben“ (S. 235). Jüdische Angeklagte stießen, wie zu vermuten steht und wie zahlreiche Causen zeigen, selbst „nach dem Verbot der NSDAP […] auf wenig Milde bei der Wiener Richterschaft“ (S. 248).

 

Ein weiterer festzuhaltender Vorzug dieses Bandes ist, dass er der Wiener SS tatsächlich nicht nur ein Gesicht verleiht, denn die 85 Abbildungen zeigen mit Masse zumeist uniformierte SS-Chargen in Form von Porträtaufnahmen, während Kurzbiographien von „Ammersin, Rudolf“ bis „Ziegler, Hans“ im Anhang auf 27 Druckseiten (S. 581ff.) den Personalakten entnommene Datensätze zu Leben und Laufbahn beisteuern. An anderer Stelle kommen die Karriereverläufe österreichischer SS-Männer in Deutschland zur Sprache; „die meisten Gründer der Wiener SS (hatten) einen Karrierebruch zu verzeichnen […], da sie aufgrund ihrer früh erworbenen hohen Dienstgrade nicht mehr den neuen Anforderungen der SS genügten […]. Aufstiegschancen hatten letztlich nur noch drei Gruppen: SS-Angehörige, die über eine fundierte Ausbildung verfügten, die im Ersten Weltkrieg als Offiziere gedient hatten oder die noch sehr jungen SS-Männer“ (S. 557). Ärger erregte auch, dass die Führer des ehemaligen Steirischen Heimatschutzes, Hanns Albin Rauter, August Meyszner und Konstantin Kammerhofer, die erst nach ihrer Flucht nach Deutschland der SS beigetreten waren, bereits „im Februar 1935 zu SS-Oberführern“ (ein Dienstgrad zwischen Oberst und Generalmajor, W. A.) befördert wurden und damit „mit Ausnahme von Karl Taus […] das gesamte österreichische SS-Führerkorps um Längen überrundet(en)“ (S. 558). Dies war umso schmerzhafter, als auch unlängst Martin Moll („NS-Eliten in der Steiermark und steirische NS-Eliten“, in: „NS-Herrschaft in der Steiermark, hg. v. Halbrainer, Heimo/Lamprecht, Gerald/Mindler, Ursula [Wien 2012], S. 106) Kammerhofer und Rauter eine „völlig fehlende Vorbildung für eine leitende Position“ attestiert hat. Ein weiteres Problem für die Wiener SS-Angehörigen stellte, so Christiane Rothländer, „das Fehlen ihrer alten Führungsspitze in Deutschland“ dar; „die Situation […] änderte sich erst mit dem Eintreffen von Josef Fitzthum im Februar 1936 […], der sich zunächst bei Himmler und in der Folge auch bei Rodenbücher für jene Männer verwendete, die sich im Parteieinsatz in Österreich besonders verdient gemacht hatten“ (S. 569). Der Großteil der „Wiener“ kehrte nach dem „Anschluss“ 1938 in die Heimat zurück, wo dann „ein Korps zur Verfügung (stand), das über Jahre hinweg in allen Einheiten der deutschen SS bestens geschult worden war“ (S. 573). An der Spitze schwelten aber weiter die vorhin angesprochenen Machtkämpfe; die „wild wuchernden ‚Arisierungs‘-Geschäfte der Wiener SS gaben Kammerhofer dann den geeigneten Anlass, die alte Vetternwirtschaft endgültig zu zerschlagen und Fitzthums Abkommandierung aus Wien zu erreichen“ (S. 576).

 

Verzeichnisse der Quellen und Literatur, der Abkürzungen, der Abbildungen und der 21 Tabellen beschließen nebst einem Personenregister den Band. Nicht jeder Information dieser verdienstvollen Studie, die nach Hans Schafraneks Aufarbeitung der Geschichte der österreichischen SA („Söldner für den ‚Anschluss‘. Die Österreichische Legion 1933-1938“, Wien 2011) nun einiges Licht in die Entwicklung ihrer schwarzen Konkurrenz bringt, sollte man allerdings unkritisch folgen: So ist von einer „125. SS-Standarte mit Sitz in Marburg an der Donau“ (S. 576) die Rede – der Rezensent, selbst Steirer, weiß bislang hingegen nur von einer 125. SS-Standarte in Metz und einer 126. SS-Standarte in Marburg in der (heute slowenischen) Untersteiermark, durch die immer noch die Drau und nicht die Donau fließt.

 

Kapfenberg                                                     Werner Augustinovic