Rainer, J. Michael, Das römische Recht in Europa. Von Justinian zum BGB. Manz, Wien 2012. XVII, 403 S. Besprochen von Gunter Wesener.

 

Der Verfasser will mit seinem Buch Antwort geben (p. VI) auf die vielfach gestellte Frage nach Ziel und Zweck der Wissenschaft vom Römischen Recht und nach der Berechtigung des Unterrichts in diesem Fach. Das Buch soll angehenden Juristen „die universelle und kulturelle Funktion des Römischen Rechts als die Grundlage aller modernen Rechte Europas“ vermitteln (p. VIII). Wie bei Paul Koschaker, Franz Wieacker, Hans Schlosser und Peter G. Stein (Römisches Recht und Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur, 1996) steht auch bei Rainer die äußere Rechtsgeschichte im Vordergrund. Rezeptions-, Kodifikations- und Wissenschaftsgeschichte im europäischen Kontext finden eine fundierte Darstellung; die kultur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge werden aufgezeigt.

 

Ausgangspunkt bildet naturgemäß das justinianische Gesetzeswerk. Zutreffend spricht Rainer von Kompilation und nicht Kodifikation des Römischen Rechts. Höchst eingehend setzt er sich (S. 15ff.) mit der Entstehung der Digesten und der Arbeitsweise der Kompilatoren auseinander. Ausgehend von der Bluhmeschen Massentheorie (drei Unterkommissionen für das in drei Massen gegliederte klassische Schrifttum: „Sabinusmasse“, „Ediktsmasse“ und „Papiniansmasse“) prüft er die verfeinerten Thesen von Tony Honoré (Tribonian, London 1978) und David Pugsley (Justinians’s Digest and the Compilers, I-III, Exeter 1995-2007). Bluhme folgend vertritt Rainer im Gegensatz zu Honoré die Auffassung, dass die Gesamtkommission jeden einzelnen Titel einer Endredaktion unterzogen habe (S. 21f.). Erst nach erfolgter Endredaktion sämtlicher Titel sei die Zuweisung der 432 Titel zu den fünfzig Büchern erfolgt. Zu Recht bezeichnet Rainer (S. 23) Tribonian als den „Vater der Idee der Kompilation der Digesten“.

 

Einen Schwerpunkt bildet das Kapitel XII (S. 74-95) über die Wiedergeburt des Römischen Rechts in Italien und Frankreich (1100-1250). Neben den Glossen spielten in dieser Zeit auch die Summen eine wichtige Rolle, die bereits systematische Darstellungen einer bestimmten Rechtsmaterie bieten. Ausgangspunkt der Gattung der Summa war Südfrankreich; eine wichtige Rolle spielten zunächst die Codexsummen. Rainer (S. 80) betrachtet Placentinus, um 1160 Professor in Montpellier, als Hauptvertreter und Höhepunkt der Lehre der Glossatoren im südlichen Frankreich. Besonders hervorgehoben wird naturgemäß die Bedeutung der Glossa ordinaria des Accursius (S. 83f.). Es ist wirklich zu bedauern, dass diese noch keine moderne Edition gefunden hat. Zu Recht bezeichnet Rainer sie als „Grundlage eines europäischen gemeinen Rechts“(S. 83).

 

Ein eigenes Kapitel (XIII, S. 95-105) ist der Schule von Orléans gewidmet. Unter den sogenannten Doctores ultramontani nehmen Jacques de Révigny (Jacobus de Ravanis) und Pierre de Belleperche (Petrus de Bellapertica) eine führende Rolle ein. Bemerkenswert sind die Distinktionen des Letzteren (S. 103) (zu den beiden Juristen vgl. auch H. Lange/M. Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter, II, Die Kommentatoren, München 2007, S. 518ff.).

 

Mit der Schule der italienischen Kommentatoren bzw. Konsiliatoren (lange Zeit als Postglossatoren bezeichnet) befasst sich Kap. XIV (S. 105-110): „Das 14. Jahrhundert in Italien“. Die Bedeutung des Dreigestirns, Cinus, Bartolus und Baldus, wird entsprechend gewürdigt. Die Kommentare des Bartolus und Baldus haben nicht nur in Italien und Spanien bis in die Neuzeit eine eminente Rolle gespielt (S. 107f.), sondern auch in Deutschland, wo sich etwa in den Consultationes constitutionum Saxonicarum II, 1, 1 (Kursachsen, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) der Satz findet: Bartoli auctoritas supremo habetur in actu practico; contra ipsum velle concedere aut contrarium defendere perquam est temerarium. Gegen die Meinung Bartolus’ zu entscheiden ist überaus verwegen. (Vgl. R. Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, I, 1880, S. 112; zum Einfluss Bartolus’ in Deutschland auch J. L. J. Van de Kamp, Bartolus de Saxoferrato 1313 – 1357. Leven – werken – invloed – beteekenis, Amsterdam 1936, S. S. 209-218; zum Einfluss in Österreich G. Wesener, in: Bartolo da Sassoferrato. Studi e documenti per il VI centenario, I, Milano 1961, S. 89-106). Die von den Glossatoren und Kommentatoren ausgebildete Rechtsdoktrin bildete die Grundlage für die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts, des ius commune, war zugleich Basis der Lehren des Usus modernus pandectarum (vgl. etwa Wolfgang Kunkel, Das römische Recht am Vorabend der Rezeption, in: L’Europa e il diritto romano. Studi in memoria di P. Koschaker, I, Milano 1954, S. 1-20; ders., Das Wesen der Rezeption des römischen Rechts, Heidelberger Jahrbücher 1, 1957, 1-12).

 

Kapitel XV (S. 110-117), das sich mit dem Römischen Recht in Spanien im Mittelalter befasst, zeigt die Entstehung und Bedeutung der Siete Partidas auf, einer in Kastilien in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Kompilation, die König Alfons X., dem Weisen, zugeschrieben wird. (Vgl. auch M. Scheppach, Las Siete Partidas. Entstehung und Wirkungsgeschichte, Pfaffenweiler 1991).

 

Im Kapitel XVI (S. 117-123), das die Rezeption des Römischen Rechts in deutschen Landen zum Gegenstand hat, wird anschaulich aufgezeigt, dass die Rezeption einerseits zu einer Verwissenschaftlichung aller Rechtsgebiete in Deutschland führte, auch des einheimischen deutschen Rechts (S. 121), dass andererseits die praktische Rezeption eine Übernahme materieller Normen des römischen und kanonischen Rechts brachte. Die Gründung des Reichskammergerichts im Jahre 1495 bereits als Abschluss der Rezeption anzusehen (S. 122) scheint nicht zutreffend. Die Reichskammergerichtsordnung dieses Jahres stellt gewiss einen Markstein im Rezeptionsvorgang dar, aber nicht den Abschluss. Rezeptionsvorgänge erfolgten noch im 16. und 17. Jahrhundert. Das Bayerische Landrecht von 1616 etwa ist wesentlich stärker romanistisch als die Reformation der bayerischen Landrechte von 1518. Auch in Basel spielte die Rezeption noch im 17. und 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle (vgl. H. R. Hagemann, ZRG Germ. Abt. 78, 1961, S. 294 f. – Zu den österreichischen Ländern G. Wesener, Einflüsse und Geltung des römisch-gemeinen Rechts in den altösterreichischen Ländern in der Neuzeit [16. bis 18. Jahrhundert], Wien-Köln 1989, S. 14 und 80).

 

Sehr instruktiv ist Kapitel XX (S.146-155) über Humanismus und Recht im 15. und 16. Jahrhundert. Hervorgehoben werden Guillaume Budé (Budaeus) und Andreas Alciat. In der mittelfranzösischen Stadt Bourges erlebte der juristische Humanismus, der Mos Gallicus, seine Hochblüte. Ein eigenes Kapitel (XXI, S. 155-159) ist Jacques Cujas (Jacobus Cujacius) gewidmet. Auf dessen Vorlesungstätigkeit beruhen die Observationes. Dort sind die Anfänge der Interpolationenforschung zu finden (emendationes). Wünschenswert wäre eine entsprechende Abhandlung über Hugues Doneau (Hugo Donellus, 1527-1591), dessen Commentarii iuris civilis (seit 1589 erschienen) wohl die wichtigste und einflussreichste systematische Darstellung des Privatrechts des 16. Jahrhunderts waren (A. B. Schwarz, ZRG Rom. Abt.42, 1921, S. 583).

 

Im Kapitel über Naturrecht und Römisches Recht (XXII, S. 160-166) erfährt Hugo Grotius (1583-1645) eine schöne, kompetente Würdigung. Die Grundlagen seines Denkens sieht der Verfasser (S. 166) im französischen Humanismus gegeben.

 

Eine eingehende Behandlung erfährt auch Jean Domat (1625-1696) (Kap. XXIII, S. 167-182). Domats >Traité des lois< wird als eine Einführung in die Entstehung und Fortentwicklung des Rechts, in die Rechtsquellenlehre und in die Grundregelen der Interpretation dargestellt (S. 175).

 

Überaus instruktiv sind auch die Ausführungen (Kap. XXVI- XXVIII, S. 192-203) über die deutschen Naturrechtler Samuel Pufendorf, Christian Thomasius, den „Vater der deutschen Aufklärung“, und Christian Wolff. Eingehend werden Wolffs Institutiones juris naturae et gentium (1750) behandelt, von denen 1754 eine deutsche Übersetzung erschienen ist (Zum Mos geometricus G. Otte, Der sog. Mos geometricus in der Jurisprudenz, Quaderni Fiorentini 8, 1979, 179ff.). Axiome, System- und Begriffsbildung des älteren Naturrechts (Vernunftrechts) wurden im 19. Jahrhundert von der Historischen Schule übernommen. Zu Recht haben A. B. Schwarz (Zu Entstehung des modernen Pandektensystems, ZRG Rom. Abt. 42, 1921, S. 578ff., insbes. S. 586ff.), Koschaker, Wieacker und G. Wesenberg – und nun auch Rainer (S. 197) – auf das naturrechtliche Erbe der Historischen Rechtsschule hingewiesen. Vor allem ist der Allgemeine Teil des Pandektensystems aus der naturrechtlichen Jurisprudenz hervorgegangen

 

Höchst beachtenswert sind die Erörterungen über Karl Anton von Martini (S. 225-238) sowie über Franz von Zeiller und das ABGB (S. 238-256). Rainer gibt eine überzeugende Würdigung dieser beiden für die österreichische Rechtsentwicklung so bedeutenden Männer. Die Verdienste dieser beiden Väter des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs werden in sorgfältiger Abwägung gerecht beurteilt (S. 250 u. 255f.). (Zu Martini vgl. auch G. Lässer, Martinis Rechtsphilosophie und das österreichische Privatrecht. Von Martinis „Lehrbegriff des Naturrechts“ (1762) zum ABGB (1811/12), Wien 2008; dazu G. Wesener, ZRG Germ. Abt. 129 (2012) S. 645-648. – Bei Rainer auf S. 237 Z. 7 muss es richtig heißen: „Während Horten – Nachfolger Azzonis – die Auffassung vertreten hat …“.).

 

Eingehende Darstellungen finden Friedrich Carl von Savigny und die Historische Schule (Kap. XXXVII, S. 276-310), Georg Friedrich Puchta (Kap. XXXVIII, S. 310-322) sowie Bernhard Windscheid (Kap. XL, S. 332-345).

 

Hervorzuheben ist schließlich Kapitel XLII (S. 357-361): „Josef Unger (1828 – 1913) und die historische Schule in Österreich“. Erwähnenswert wären wohl in diesem Zusammenhang Leopold Pfaff (1837-1914) und Franz Hofmann (1845-1897) mit ihrem historisch ausgerichteten Commentar zum österreichischen ABGB und den Excursen über österreichisches allgemeines bürgerliches Recht (vgl. Beiträge zu einem Symposium zum 100. Todestag Franz Hofmanns im Juni 1997 in: Orbis Iuris Romani, Journal of Ancient Law Studies IV, Brünn-Preßburg 1998, S. 149-240).

 

Rainers Darstellung geht weit über eine Einführung in die Geschichte des Römischen Rechts in Europa hinaus. In überaus anschaulicher, eindrucksvoller Weise wird die nachhaltige Bedeutung des Römischen Rechts für die Rechtsentwicklung in Europa aufgezeigt. Das Buch stellt eine wesentliche Bereicherung der Europäischen Rechtsgeschichte, insbesondere der Geschichte des Privatrechts, dar, wobei die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge einen Schwerpunkt bilden.

 

Graz                                                                                                   Gunter Wesener