Pawliczek, Aleksandra, Akademischer Alltag zwischen Ausgrenzung und Erfolg. Jüdische Dozenten an der Berliner Universität 1871-1933 (= Pallas Athene 38). Steiner, Stuttgart 2011. 529 S. Besprochen von Werner Schubert.
Bisher wurde die Universitätsgeschichte sowie die Geschichte der deutsch-jüdischen Beziehungen meist unabhängig voneinander behandelt. Pawliczek will mit ihrem Werk die verschiedenen Forschungsgebiete für die Universität Berlin für die Zeit von 1871 bis 1933 „in einer Synthese zusammenführen, d. h. die Wissenschafts- und Universitätsgeschichte mit Ergebnissen der Forschung zu deutsch-jüdischen Beziehungen zu verknüpfen“ (S. 19). Hierbei werden sozialstatistische und qualitätsanalytische Methoden kombiniert. Bei der gruppenbezogenen Betrachtungsweise werden die jüdischen und „nicht-mehr-jüdischen Wissenschaftler in den Kontext der universitären Entwicklung im Untersuchungszeitraum gestellt.“ Nach einem einleitenden Abschnitt über die Juden in der deutschen Gesellschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik (S. 9ff.) behandelt Pawliczek zunächst den rechtlichen und statistischen Rahmen hinsichtlich der Juden an der Berliner Universität (S. 29-96). In diesem Zusammenhang geht es u. a. um die Universitäts- und Fakultätsstatuten, die Hochschulreformen der Jahre 1919 sowie um die vorherrschenden Wissenschaftsbilder (Voraussetzungslosigkeit, Vorurteilsfreiheit, Objektivität). Es folgt ein Abschnitt über die Entwicklung des Lehrkörpers der Berliner Universität von 1871 bis 1933/1935 (S. 97-279). Nach einem Abschnitt über Karrieremuster und Chancenverteilung (Berufungspolitik und Habilitationsverfahren) geht Pawliczek auf die Fakultäten im Einzelnen ein. An der relativ kleinen juristischen Fakultät waren unter den 137 Dozenten während der Untersuchungszeit 37 „jüdische Dozenten“ (Ordinarien, Honorarprofessoren, Extraordinarien und Privatdozenten), die insgesamt 27 Prozent des Lehrkörpers ausmachten. Unter ihnen waren fast 60 Prozent (21 Dozenten) christlich getauft (S. 144). Im Vergleich dazu war die Situation der Katholiken schwieriger, deren Anteil am Lehrkörper unter 10 Prozent betrug. In der Kaiserzeit verfügte die Fakultät zeitweilig über zwei Ordinarien jüdischer Herkunft (Levin Goldschmidt, Heinrich Dernburg); in der Weimarer Zeit war bei höchstens 14 Ordinarien ein Viertel (1932/33 ein Drittel) der Ordinarien jüdischer Herkunft (S. 147; u. a. James Goldschmidt, Martin Wolff, Ernst Rabel und Fritz Schulz). Die „jüdischen“ Honorarprofessoren und Exordinarien stellten in der Weimarer Zeit zeitweilig die Hälfte dieser Statusgruppe (S. 148ff.). Die Zahl der Privatdozenten war insgesamt im Vergleich zu den anderen Fakultäten sehr gering. Unter dem Einfluss des Berufsbeamtengesetzes (April 1933) verlor die Berliner Juristenfakultät zwischen 1933 und 1935 ein Drittel ihres Lehrkörpers (5 Ordinarien, 4 Honorarprofessoren, 1 Privatdozent; S. 262ff.).
Der dritte Abschnitt befasst sich mit der „Berufungsrhetorik“ der Fakultäten und des Kultusministeriums (S. 280-460). In diesem Zusammenhang beschreibt Pawliczek die Berufungen von Levin Goldschmidt und Ernst Wolff, die „einen Zusammenhang zwischen politisch-gesellschaftlichem Klima und Erfolg erkennen“ lassen („liberales“ Jahrzehnt nach der Reichsgründung; Initiative der demokratischen preußischen Regierung). Im Exkurs: „Jüdische Reaktion auf den protestantischen Homogenitätsdruck“ (Taufe und Identität; S. 421ff.) befasst sich Pawliczek mit Hermann Hellers Berufung 1928 nach Berlin, die gegen den geschlossenen Widerstand der Fakultät erfolgte, an deren Spitze damals James Goldschmidt als Dekan stand; das Votum der Fakultät erfolgte jedoch nicht primär vor dem Hintergrund eines rassisch-religiösen Antagonismus. Hinsichtlich des Staatsrechtlers Hugo Preuß lehnte die Fakultät 1896 die Übertragung eines Extraordinariats ab (anders 1906); eine antagonistische Haltung der Berliner Professoren ließ sich „nicht zweifelsfrei“ feststellen (S. 449). Im „kurzen Resümee“ (S. 461ff.) stellt Pawliczek fest, dass die Habilitation und das Extraordinariat Juden wie Nichtjuden mit Unterstützung der Fakultäten weitgehend zugänglich gewesen sei: „Weder quantitativ noch qualitativ unterschieden sich die Anträge der Fakultät um Beförderung und Besoldung jüdischer und nichtjüdischer Mitglieder des nicht ordentlichen Lehrkörpers voneinander“ (S. 464). Bezüglich der Vorschlagslisten der Fakultät auf der Ebene der Ordinarien ließen sich zwar „qualitative Unterschiede“ nicht ausmachen (S. 465). Jedoch lässt sich eine „informelle ‚Zurücksetzung’ von Juden“ auf der Ebene der Ordinariate feststellen (S. 466); Ähnliches gilt allerdings auch für Katholiken, Sozialdemokraten, Demokraten und Frauen (S. 467). Feste Bestandteile des „akademischen Habitus“ der Berliner Professoren waren nach Pawliczek religiöse Vorurteile, latenter Antisemitismus und Antikatholizismus (S. 467), wobei getaufte Juden erfolgreicher waren als nicht konvertierte Juden. Allerdings bildete nach Pawliczek das „antisemitische Vorurteil“ eine „Komponente unter vielen bei der Ausschaltung einzelner Wissenschaftler und damit auch der Konkurrenz und wies nur selten monokausalen Charakter auf“ (S. 468). Bei „bemerkenswert vielen jüdischen Dozenten“ stellt Pawliczek „eine Gleichzeitigkeit vieler (gedachter und genannter) Ausschlusskriterien“ fest: „Als Vertreter eines ausgesprochenen Spezialfachs, politisch im demokratischen oder sozialdemokratischen Lager verankert, möglicherweise weiblich und jüdisch, zuweilen auch katholisch getauft, waren sie mehreren dieser Exklusionsmomente gleichzeitig ausgesetzt“ (S. 471f.). Im Anhang bringt Pawliczek eine Zusammenstellung der „‚jüdischen’ Dozenten“ der Berliner Fakultäten, leider ohne die Position der Dozenten an der jeweiligen Fakultät zu nennen. Die getauften jüdischen Dozenten sind besonders gekennzeichnet. Angesichts der geringen Zahl der jüdischen Dozenten an der juristischen Fakultät liegt der Schwerpunkt der Darstellung bei den jüdischen Dozenten der erheblich größeren Medizinischen und Philosophischen Fakultät (einschließlich der Naturwissenschaften und der Mathematik). Die Übersicht über die Anzahl der Dozenten an der Berliner Universität von 1871 bis 1933 erfasst die Dozenten nach ihrer Statusgruppe und nach ihrer Religion („jüdische“ Dozenten, darunter Juden sowie Katholiken; S. 486-490). Die fakultätsübergreifende Perspektive der Untersuchungen hätte insbesondere im Resümee oder in sonstigen Zusammenfassungen noch ausführlicher thematisiert werden sollen. Insgesamt enthält das Werk, abgesehen von den Abschnitten über die Berliner Juristische Fakultät, auch für den Rechtshistoriker wichtige methodische Anregungen für die Befassung mit der Geschichte rechtswissenschaftlicher Fakultäten.
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Werner Schubert |