Oestmann, Peter, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge. Böhlau, Köln 2012. 859 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Peter Oestmann (*1967) ist, wie auch das umfangreiche, 80 Seiten umfassende  Verzeichnis von Quellen (darunter weit mehr als 100 ungedruckte Quellen) und Literatur des gewichtigen vorliegenden Werkes ausweist, einer der besten Kenner der Gerichtsbarkeit des Heiligen römischen Reiches. Den ersten Grundstein hierfür legte er bereits 1997 mit seiner eindrucksvollen Untersuchung über Hexenprozesse am Reichskammergericht. Nur fünf Jahre später entfaltete er in seiner überzeugenden Habilitationsschrift die Rechtsvielfalt vor Gericht in der Form des Verhältnisses von Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich.

 

In vielen weiteren einzelnen Studien hat er vertieft etwa zur Aktenversendung, zum Artikelprozess, zum Beweis, zur Einlassung, zur Extrajudizialappellation, zu den Gerichten, zur Gerichtsbarkeit, zu den Hofgerichten, zur Lübecker Rechtspraxis, zum sächsisch-magdeburgischen Recht, zu den Hansestädten, zur Rechtsverweigerung, zur Rechtsprechung, zum Richterleitbild oder zur Form im Recht Stellung bezogen. In zahlreichen weiterführenden Rezensionen hat er sich mit den Ansichten anderer Forscher anregend auseinandergesetzt. Stets war ihm dabei die Berücksichtigung der Rechtswirklichkeit an Hand einzelner Fälle, Verfahren und darüber überlieferter Akten ein besonderes Anliegen.

 

Dabei hat er zuletzt die am Beginn seines kurzen Vorworts geäußerte Ansicht gewonnen, dass gegen die vielbeschworene Krise der Monographie, auf die etwa bei der Vorstellung der Bücher des Jahres nachdrücklich hingewiesen wurde, nur eines hilft: Bücher schreiben. Dementsprechend gab er bei der Gründung eines Exzellenzclusters über Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne in Münster eine Selbstverpflichtung zur Einzelforschung und zum Buch ab. Im Ergebnis eröffnete ihm die Vertiefung in eine größere und längere Arbeit ein belebendes Gegengewicht zur höchst anregenden alltäglichen Betriebsamkeit.

 

Dabei wiesen ihn erste Quellerschließungen auf ein weitgehend unbearbeitetes frühneuzeitliches Rechtsproblem. Dem folgten zahlreiche Archivreisen (wohl nach Berlin, Detmold, Düsseldorf, Hamburg, Hannover, Lübeck, Osnabrück, Schleswig oder Schwerin), die ihm viele schöne Erlebnisse bescherten. Die Niederschrift begann 2009, nutzte die frühesten Morgenstunden am See vor Sonnenaufgang zur Aufzeichnung ganzer Abschnitte und ließ nach dem raschen Gelingen dem Schreiber aber doch gern die Feder aus der Hand legen.

 

Gegenstand der Aufmerksamkeit war dabei ein besonderes, der Gegenwart nicht mehr bedeutsames, aber früher sehr wichtiges Problem. Es bestand in der oft umstrittenen Frage nach dem zuständigen Gericht oder nach dem richtigen Instanzenzug. Sie konnte vor allem im Verhältnis zwischen geistlichen und weltlichen Gerichten zu erbitterten Auseinandersetzungen führen.

 

In seiner klaren und übersichtlichen Einleitung beschreibt der Verfasser nach Annäherungen zunächst das Forschungsziel. Danach nimmt er, weil eine erschöpfende Untersuchung die verfügbare Arbeitskraft eines Einzelnen überschritten hätte, eine Eingrenzung des Untersuchungsraums und der Quellenauswahl auf die Territorien von Münster, Osnabrück, Hildesheim, Lübeck, Mecklenburg, Schleswig-Holstein-Lauenburg, Lippe, Hamburg und Jülich-Berg vor. Auch wenn damit die Vorgaben einer vollkommen repräsentativen Stichprobenforschung nicht vollständig erfüllt sein dürften, dürfte dadurch doch jedes mögliche Ergebnis ausreichend breit abgesichert sein.

 

Im Einzelnen differenziert der Verfasser dann nach dem jeweiligen Bedarf und den vorgefundenen Gegebenheiten. Die untersuchten Streitigkeiten um den Instanzenzug im Fürstbistum Münster betreffen etwa das Münsteraner Offizialat als geistliches und weltliches Gericht, das Kölner Offizialat als Appellationsgericht in weltlichen Sachen oder den apostolischen Nuntius als Appellationsinstanz in weltlichen Zivilsachen. Erörtert wird dies beispielsweise am Prozess Komnis gegen Schulte Sudhoff 1595/1596, am Prozess Bischopinck gegen Jungermann 1601 oder am Prozess Heinrich Mumme gegen den Münsteraner Offizial 1608.

 

Dem folgen Streitigkeiten um den Instanzenzug im Fürstentum Osnabrück unter ausführlicher Einbeziehung Justus Mösers, der Streit um den Rekurs an die päpstliche Kurie im Hochstift Hildesheim. Zuständigkeitsstreitigkeiten aus der Reichsstadt Lübeck, aus Schleswig-Holstein-Lauenburg, aus der Grafschaft Lippe, aus der Reichsstadt Hamburg und aus dem Herzogtum Jülich-Berg. In jedem Fall legt der Verfasser gekonnt den Ablauf und die wesentlichen Streitpunkte dar. Stets schließt er mit einem klaren Ergebnis ab.

 

Am Ende des umfangreichen Werkes steht er vor der Schwierigkeit, aus all den aufgefundenen und vorgetragenen Einzelheiten Lehren zu ziehen, ohne die bunte Vielfalt „unter Vergewaltigung der Quellen zwanghaft zu einem Gesamtbild zusammenzupinseln“. Auch dies gelingt ihm am Ende eindrucksvoll. Dementsprechend beginnt die Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse mit den vier Worten: Es gibt kein Gesamtbild.

 

Nach den souveränen Ausführungen des Verfassers leistet seine Untersuchung genau das nicht, was vor wenigen Jahrzehnten noch der hauptsächliche Zweck eines vergleichenden Unterfangens gewesen wäre. Es nimmt zwar Streitigkeiten um die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen weltlichen Gerichten und geistlichen Gerichten in der frühen Neuzeit unter die Lupe. Es bietet jedoch keine gleichsam materiellrechtliche oder gerichtsverfassungsrechtliche Rekonstruktion, so dass ungeklärt bleibt, welche Sachen weltlich und welche Sachen geistlich waren, weil sich eine eindeutige Antwort auf die naheliegende Frage, wo denn nun genau die Grenze zwischen weltlichem und geistlichem Gericht lag, als notwendige Folge der umfassenden Quellensichtung nicht geben lässt..

 

Allerdings kann der Verfasser beispielsweise überregionale Problemfelder und Argumente ermitteln, prozessuale Besonderheiten vortragen, typische Argumentationsmuster schildern, auf die partikulare Vielfalt hinweisen und das Schweigen religiöser Argumente vor Gericht hervorheben. Darüberhinaus hat ihn die Beschäftigung mit seinem Gegenstand zu der einleuchtenden Einsicht gebracht, dass es nicht darum gehen kann, Eindeutigkeiten zu suchen, wenn die vergangene Zeit selbst Rechtsfragen in der Schwebe hielt und sogar höchstrichterliche Entscheidungen sich offen zur Uneindeutigkeit bekannten. Dementsprechend gibt es zwar kein Gesamtbild, aber doch eine gesamte Rechtsgeschichte als Geschichte von Rechtsstreitigkeiten im Kampf um das Recht.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler