Nationalsozialistisches Migrationsregime und „Volksgemeinschaft“, hg. v. Oltmer, Jochen (= Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ - Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung 2). Schöningh, Paderborn 2012. 298 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Das in Grauabstufungen changierende Titelbild des Bandes erinnert an Darstellungen des Futurismus und zeigt uniformierte, in der faschistischen Gewerkschaftsbewegung organisierte weibliche und männliche Arbeitsmigranten 1938 auf dem Bahnhof von Treviso vor ihrer Abfahrt ins Deutsche Reich. Es symbolisiert eine jener Migrationsbewegungen, die abseits der von der Forschung überwiegend wahrgenommenen, fünf großen Bewegungen von Menschen im Raum in den 1930er und frühen 1940er Jahren (Abwanderung/Vertreibung als jüdisch kategorisierter Menschen aus dem Reich, grenzüberschreitendes Ausweichen von Gegnern des Nationalsozialismus vor politischer Verfolgung, Deportation und Einsatz von Zwangsarbeitskräften, Umsiedlung von Volksdeutschen aus deutschsprachigen Minderheitengebieten, Deportation von Juden nach Osteuropa und ihre Ermordung) bislang nicht im Brennpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit standen und auf die sich das vorliegende Sammelwerk deshalb verstärkt konzentrieren will. Es referiert weitgehend die Vorträge der die Ausstellung „Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen“ begleitenden, in Kooperation zwischen dem Deutschen Historischen Museum, dem Forschungskolleg „Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘?“ der Universitäten Göttingen, Hannover, Oldenburg und Osnabrück sowie dem Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück veranstalteten Tagung „Nationalsozialistisches Migrationsregime und ‚Volksgemeinschaft‘“ (Berlin, 19./20. November 2010).

 

Den gemeinsamen Bezugsrahmen der Beiträge erläutert der Herausgeber, der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer, in seiner knappen und präzisen Einleitung. Anhand dreier Tabellen (Migrationsformen, Hintergründe und raum-zeitliche Dimensionen von Migration, Typologie der Zwangsmigrationen) umreißt er zunächst allgemein den Begriff der Migration, um anschließend das Kernelement seines heuristischen Ansatzes, die Migrationsregime, näher vorzustellen. Bei Migrationsregimen handle es sich um „integrierte Gestaltungs- und Handlungsfelder institutioneller Akteure, die einen bestimmten Ausschnitt des Migrationsgeschehens fokussieren, Migrationsbewegungen kanalisieren und die (potentiellen) Migranten kategorisieren“, wobei die institutionellen Akteure „staatliche (judikative, exekutive, legislative), suprastaatliche sowie internationale Instanzen und Apparate sein [können], aber auch private Träger (Unternehmen, Vereine, Verbände)“. Jedes Migrationsregime verfüge „immer über zwei elementare und miteinander verflochtene Felder: 1. ‚Mobilitätsregime‘, die auf die Einflussnahme auf den Zugang zu bzw. der Abwanderung aus einem Raum bzw. von einem Territorium verweisen, sowie 2. ‚Präsenzregime‘, die die Normen und Praktiken der Einbeziehung bzw. des Ausschlusses von Zuwanderern in gesellschaftlichen Funktionsbereichen wie beispielsweise Politik, Recht, Wirtschaft oder Erziehung umfassen“. Die Analyse von Migrationsregimen sei als offenes Konzept deshalb von Wert, weil sie Antworten gebe „auf die grundlegende Frage, wer aus welchen Gründen, in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen Migrationen beobachtet und beeinflusst“, wodurch sich Perspektiven auf unterschiedlichen Ebenen und für systematische Vergleiche anböten. Im Kontext der durch Einschließungsprozesse wie Ausschließungsprozesse gekennzeichneten Utopie der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ sei Migration „einerseits Instrument und andererseits Herausforderung“ gewesen (S. 16ff.).

 

Nachdem Steve Hochstadt in seinem in englischer Sprache abgefassten Beitrag Jochen Oltmers Einleitung erweitert und in einen breiteren, vom Kaiserreich bis zur frühen Bundesrepublik reichenden zeitlichen Rahmen mit besonderer Betonung des wissenschaftsgeschichtlichen Bereichs gestellt hat, erschließt sich der weitere Inhalt des Bandes in vier größeren thematischen Blöcken. In den Abschnitten „Exklusion und Inklusion“, „Rekrutierung von Arbeitskräften im Ausland“ sowie „Raumpolitik und Migration“ hat der Herausgeber jeweils drei, unter „Ökonomischer Wandel und Migration“ zwei Beiträge versammelt, ihre Verfasser werden im Anhang (S. 295ff.) kurz vorgestellt.

 

Exklusion: das betraf in erster Linie die als jüdisch definierte Bevölkerungsgruppe in Deutschland, deren Auswanderung Jürgen Schlör mit Blick sowohl auf die antijüdische Politik des „Dritten Reichs“ als auch auf den innerjüdischen Diskurs analytisch nachgeht. Dass die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ indes keineswegs stets konsequent abstammungsmäßige Gesichtspunkte zum entscheidenden Kriterium der Zugehörigkeit erhob und auch politische Opportunitätserwägungen erheblichen Einfluss hatten, zeigt Johannes Frackowiak am Beispiel der polnischen Minderheit in Deutschland, deren Integration bei bestehender deutscher Staatsangehörigkeit zwar unter Zerschlagung ihrer eigenkulturellen Basis, aber ansonsten relativ problemlos vonstatten ging. Ein probates Mittel, die „Volksgemeinschaft“ gegenüber „Fremdvölkischen“ abzugrenzen, war das Instrument des Rechts: Schon ab 1933 war die Justiz bemüht, diesen einen Status minderen Rechts einzuräumen, und während des Krieges wurden die Millionen unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebrachten und unzureichend versorgten ausländischen Zwangsarbeiter als innere Bedrohung wahrgenommen und mit drakonischen Strafbestimmungen – „die Aburteilung erfolgte mit der ganzen Härte des Systems“ (S. 108) - in Schach gehalten, Tatsachen, die Christine Schoenmakers anhand von Akten des Land- und Sondergerichts Bremen expliziert.

 

Die gewaltfreie Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland im Wege binationaler Wanderungsabkommen war, wie Christoph Rass darstellt, eine seit Ende des Ersten Weltkriegs in Europa bekannte Praxis, die auch vom nationalsozialistischen Deutschland aufgegriffen wurde. Der Beitrag Roberto Salas illustriert, dass vor allem das faschistische Italien auf diesem Wege der deutschen Landwirtschaft und Industrie zahlreiche Arbeitskräfte zuführte, die mit dem Ausscheren Italiens aus der Achse im Sommer 1943 dem Heer der Zwangsarbeiter anheimfielen. Kein Sicherheitsrisiko und eine qualitative Verbesserung der „Volksgemeinschaft“ erwartete man von jenen jungen deutschen Frauen, die während der Weltwirtschaftskrise zur Arbeit in die Niederlande abgewandert waren: Unter dem Titel der „Hausmädchenheimschaffung“ betrieben, so kann Barbara Henkes deutlich machen, die NS-Behörden zäh und konsequent deren Rückführung ins Reich. „Die Idee, wonach das individuelle Interesse hinter dem überragenden Interesse der alle Deutschen einschließenden ‚Volksgemeinschaft‘ zurücktreten müsse, legitimierte das NS-Regime, deutsche Staatsangehörige ‚heim ins Reich‘ zu holen. Neu war darin nicht nur der Zwang, mit dem diese Aktion durchgeführt wurde, sondern auch die Vorstellung von der Rettung der deutschen Dienstmädchen aus den ‚verjudeten‘ Niederlanden“ (S. 213).

 

Ernst Langthaler untersucht in seinem Beitrag das Phänomen der Landflucht vornehmlich am Beispiel des Reichsgaus Niederdonau, und stellt dieses in den größeren Zusammenhang der Positionierung und Strukturierung des agrarischen Sektors in einer immer stärker industrialisierten Gesellschaft. Einer dieser Kristallisationspunkte mit einem enormen Hunger nach Arbeitskraft war der von Lars Amenda in den Blick genommene Raum Salzgitter, Standort der „Reichswerke Hermann Göring“. Wie die Nationalsozialisten Raumpolitik verstanden, zeigen auch die drei Beiträge des abschließenden Abschnitts: Oliver Werner für das marginale Wirksamwerden der regionalen Landesplanung in Konkurrenz zu übergeordneten Planungsbehörden in den Industriegebieten südlich von Halle an der Saale und bei Magdeburg; Armin Nolzen anhand der als „Freimachungen“ bezeichneten, militärisch bedingten und mehr als 900.000 Personen umfassenden Evakuierungen 1939/40 an der Grenze zu Frankreich und Belgien sowie aus der Stadt Wilhelmshaven; und Michael Wedekind, der am Modell der dann im Herbst 1943 definitiv abgebrochenen Planungen zur Umsiedlung der Südtiroler konstatiert: „Die an sozioethnischen Idealbildern orientierte Raumplanung des Nationalsozialismus entwarf Räume der Gewalt. Die unter despotischem Diktat zwangsmigrierende Bevölkerung war darin nicht lediglich instrumentalisierte Verschubmasse; vielmehr wurde sie beim anstehenden ,Umvolkungsprozess‘ als Teil des Gewaltsystems konzipiert“ (S. 292f.).

 

Der kurze Streifzug durch die vielgestaltigen Beiträge dieses nicht weiter aufgeschlossenen Sammelbandes offenbart die Heterogenität dieser Materie, die durch den roten Faden der nationalsozialistischen Präsenz- und Migrationsregime zusammengehalten wird. Es wird sich weisen, inwieweit dieser „den Zusammenhang von Migration und Gemeinschaftsbildung“ betonende Ansatz geeignet ist, den unscharfen Begriff der NS-„Volksgemeinschaft“ klarer herauszuarbeiten und damit unser Wissen über das Wesen dieses Regimes essentiell zu mehren. Jürgen Oltmers aus dem Blickwinkel des Migrationsforschers definierter Marschplan will erste Richtmarken setzen: „Ein Forschungsprogramm zur Geschichte des nationalsozialistischen Migrationsregimes müsste explizit auch danach streben, Institutionen und institutionelle Akteure (einschließlich der Frage nach personellen und interpersonalen Verbindungen über die großen Zäsuren in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hinweg) in eine lange Geschichte der Entwicklung von Migrationsregimen vom späten 19. Jahrhundert bis weit in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs einzubetten, um der Vielfalt der Einflussnahmen auf die Migrationsverhältnisse und ihren Wechselwirkungen gerecht zu werden“ (S. 25).

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic