Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen, hg. v. Reinalter, Helmut/Brenner, Peter J. Böhlau, Wien 2012. XIV, 1409 S. Besprochen von Hiram Kümper.

 

Dass ‚die Geisteswissenschaften’ – was immer man im Einzelfall wird darunter verstehen wollen –, vor allem die kleineren Fächer unter ihnen, sich schon seit einiger Zeit hohem Legitimationsdruck ausgesetzt sehen, ist nichts Neues mehr. Man kann das auch an den zunehmenden programmatischen Gegensteuerungsversuch – vom Jahr der Geisteswissenschaften bis hin zu den neu gegründeten Käte Hamburger Kollegs für geisteswissenschaftliche Forschung – ablesen. Zu ihnen gesellt sich nun auch das frisch vorliegende „Lexikon der Geisteswissenschaften“, das neben einem inhaltlichen deutlich auch ein forschungspolitisches Anliegen vertritt.

 

Zunächst einmal fällt aber der schiere Umfang ins Auge: 244 Artikel von 137 Beiträgerinnen und Beiträgern auf insgesamt 1.409 Seiten. Gegliedert wird der massive Band, wie im Untertitel ausgewiesen, in drei große Komplexe: Sachbegriffe, Disziplinen und Personen. Die Auswahl der Lemmata, die sich hinter diesen Komplexen verbergen, ist neben der Qualitätssicherung der Einzelbeiträge sicherlich die Krux eines jeden lexikalischen Unternehmens. Je größer der Zuschnitt des Gesamtwerkes ist – und ‚Geisteswissenschaften’ ist für ein wissenschaftliches Fachlexikon fraglos an Zuschnittsbreite kaum mehr zu überbieten –, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass jede Leserin und jeder Leser ein Stichwort des eigenen Interessenfeldes vermissen wird, andere wird ein(e) jede(r) für entbehrlich halten.

 

Die große Stärke – und zwar nicht nur in quantitativer (knapp 900 Seiten!) Hinsicht – bildet sicher der erste Teil, der den Sachbegriffen gewidmet ist. Hier werden nicht nur Grundbegriffe geisteswissenschaftlicher Forschung, wie etwa „Analytik/Erklärung“ (Esther Ramharter), „Kausalität“ (Tom Denter), „Objektivität“ (Christoph Cornelißen) oder „Subjekt“ (Roland Benediktiner) historisch-kritisch erläutert, sondern auch jüngere Konzepte wie der „Linguistic turn“ (Christine Engel) oder die „Risikogesellschaft“ (Sabine Haring), zum Schlagwort geronnene Schulenbildungen, wie die „Annales“ (Helmut Reinalter) oder die „Bielefelder Schule“ (Gunilla Budde), und interdisziplinäre Forschungsperspektiven, wie etwa „Antikenrezeption“ (Karlheinz Töchterle). Diese wenigen Titel deuten schon die enorme Spannbreite an, die abgedeckt wird, vermitteln aber zugleich auch eine Idee davon, wie wohlfeil man eine Aufnahme in das Lexikon hier gegen ein Ausbleiben dort aufwiegen könnte – und wie unnütz ein solches Aufwiegen angesichts eines von Buchdeckeln begrenzten Werkes eigentlich nur sein kann. Wie viel mehr Tiefe jenseits der ausgewählten Lemmata das Lexikon noch zu bieten hat, zeigt deutlich das ausführliche Sachregister.

 

Problematischer scheint die getroffene Auswahl im zweiten Teil, der sich den Disziplinen zuwendet. Erfreulich scheint einerseits, dass nicht nur klassische Fächer und disziplinäre Dachbegriffe, sondern auch bereits gut etablierte Interdisziplinen, wie etwa die „Ideengeschichte“ (Helmut Reinalter) oder die „Editionswissenschaft“ (Bodo Plachta), Aufnahme gefunden haben. An anderen Stellen scheint die Nachvollziehbarkeit der Auswahl nicht mehr recht gegeben. Nach welchem Maß z. B. „Gesellschaftsgeschichte“ (Manfred Hettling) – ungeachtet der hohen Qualität des Artikels – zur Disziplin zu erklären sei, bleibt unbeantwortet. Ein solcher weiter Disziplinenbegriff wäre an sich noch nicht beklagenswert, müssten nicht auf der anderen Seite Vertreter(innen) einzelner klassischer geisteswissenschaftlicher Disziplinen mit Wehmut das Fehlen ihres Fachs bemerken, etwa die Altphilologien, die – im Gegensatz zur „Neogräzistik“ (Maria Strassinopoulou) – keines Artikels gewürdigt werden. An dieser Stelle sollte dann mit Blick auf die Leserschaft dieses Periodikums auch die Beobachtung nicht unterbleiben, dass weder die Rechtsgeschichte selbst, noch ihr ‚anderer Elternteil’ (neben der Geschichtswissenschaft), nämlich die Jurisprudenz, hier Erwähnung findet. Das ist eigentlich verwunderlich, ist doch erstens die Rechtswissenschaft – auch wenn das in der heutigen Juristenausbildung hier und da gern vergessen wird – eines der ‚urhermeneutischen’ Fächer und damit ganz ohne Zweifel traditionell eine Geisteswissenschaft, und ist zweitens die strukturbildende Dynamik des Rechts, der Aushandlung desselben und des Nachdenkens darüber seit jeher integraler Bestandteil ganz vielseitiger geisteswissenschaftlicher Forschungen. Man denke mit Blick auf beides nur an eines der oben bereits angesprochenen Käte-Hamburger-Kollegs, nämlich das Bonner, das 2008 seine Arbeit zum Thema „Recht als Kultur“ aufgenommen hat. Selbstverständlich gilt das eingangs formulierte Caveat vor dem allzu wohlfeilen Beklagen fehlender Lemmata auch in diesem zweiten Großkomplex des Lexikons. Das verglichen mit dem kaum begrenzbaren Bereich der Sachbegriffe noch eher überschaubare Feld geisteswissenschaftlicher Disziplinen aber macht das Fehlen einzelner Lemmata natürlich deutlich sichtbarer.

 

Sehr grundsätzlich wird man schließlich fragen können, ob ein Nachschlagewerk dieses Formats tatsächlich noch eines biographisch-werkhistorischen Teil bedurft hätte, oder ob der Platz nicht sinnvoller anderswo hätte eingesetzt werden können – das auch, weil man natürlich über die jeweilige Notwendigkeit der Aufnahme einer einzelnen Persönlichkeit noch viel leichter wird streiten können als das schon bei den Sach- und Disziplinenlemmata der Fall sein dürfte. Damit ist die Qualität der Einzelbeiträge aber noch nicht in Frage gestellt. Und das darf am Schluss, nachdem nun viel über die Auswahl der Inhalte gesagt worden ist, auch nicht übergangen werden: Wir haben hier ein Werk von hohem intellektuellen und sprachlichen Niveau vor uns, das sich einer schwierigen Aufgabe gestellt hat und ganz ohne Frage eine große Bereicherung für den geisteswissenschaftlichen Buchmarkt darstellt.

 

Bielefeld                                                                     Hiram Kümper