Kradolfer, Matthias, Justitias „Emancipation“ - Zur Unabhängigkeit der Justiz in der schweizerischen Eidgenossenschaft 1798-1848. Unter besonderer Berücksichtigung der Justizgeschichte des Kantons St. Gallen (= Europäische Rechts- und Regionalgeschichte 15). Dike, Zürich 2011. XIII, 336 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die Arbeit ist die von Lukas Gschwend betreute, 2011 von der Universität Sankt Gallen. Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften sowie internationale Beziehungen angenommene Dissertation des in Sankt Gallen 1985 geborenen, in Zürich ausgebildeten, im Doktoratsstudium 2009-211 (!) am Lehrstuhl Thomas Gächters als Assistent tätigen Verfassers. Sie betrifft eine bisher noch nicht ausreichend bearbeitete Thematik. Sie gliedert sich in insgesamt 9 Abschnitte.
Nach einer Einführung über den Gegenstand der Untersuchung, Forschungsstand und wegleitende Überlegungen sowie den methodisch-theoretischen Rahmen (einschließlich von Vorgehen und Quellen) schildert der Verfasser unter Entwicklungsprozessen und Strukturbedingungen zunächst die Zersetzung der Gerichtsverfassung des Heiligen Römischen Reiches und die alte Eidgenossenschaft mit ihren Strukturbedingungen um 1800. Danach behandelt er Recht und Rechtspflege in der Reichsstadt Sankt Gallen unter besonderer Berücksichtigung der Verfassungsstrukturen und des Erbstreits der Familie Müller, wobei er auf die historisch gewachsene Justizverwaltung und die fehlende Beamtenprofessionalität hinweist. Anschließend legt er kurz das politische, von der Aufklärung bestimmte Reformdenken in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dar.
In der Hauptsache befasst er sich danach mit den Epochen der helvetischen Republik (1798-1803), der Mediation und Restauration (1803-1831), des Liberalismus und der Regeneration (1830/1831) sowie dem Weg von der Regeneration zur Bundesverfassung von 1848. Dabei kann er zwar insgesamt modernisierende Entwicklungen feststellen, weist aber doch auch auf Simon Kaisers Schluss hin, dass die Eidgenossenschaft kein Rechtsstaat sei, weil in der Schweiz der regierende Wille von der Gesamtheit der Bürger gebildet werde. Noch in der Gegenwart genieße die Politik grundsätzlich Vorrang vor dem Recht, was sich in einer teils latenten, teils evidenten justizfeindlichen Grundhaltung äußere, so dass Justitias Emanzipation nach Ausweis der ansprechenden, im Anhang eine Tabelle der kantonalen Gericht im Jahre 1840 und einen Überblick über das Gerichtsverfassungsrecht der helvetischen Republik bietende Arbeit bisher noch nicht vollständig geglückt ist.
Innsbruck Gerhard Köbler