Jasch, Christian, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik - der Mythos von der sauberen Verwaltung (= Studien zur Zeitgeschichte 84). Oldenbourg, München 2012. 528 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Das Werk von Jasch, basierend auf einer Berliner Dissertation unter Rainer Schröder, ist keine Biographie Stuckarts „im engeren Sinne“, sondern dokumentiert „das Wirken eines einflussreichen Juristen innerhalb der Innenverwaltung auf dem für das ‚Dritte Reich’ zentralen Politikfeld der Judenpolitik“. Stuckarts „Lebensgeschichte dient hierbei als Rahmen und gewissermaßen als Personifizierung historischer Vorgänge und ihrer strafrechtlichen und gesellschaftlichen Bewertung in der Nachkriegszeit“ (S. 6). Wilhelm Stuckart, ein Aufsteiger aus der unteren Mittelschicht (Arbeiterschicht) aus Wiesbaden, war nach dem zweiten Staatsexamen (1930) bis Februar 1932 im preußischen Justizdienst tätig, aus dem er wegen seiner Nähe zur NSDAP, der er unter dem Namen seiner Mutter 1930 beigetreten war, entlassen wurde (S. 19). Nach einer Zwischenstation als Rechtsanwalt und Rechtsberater der NSDAP in Stettin kam er am 15. 5. 1933 als Ministerialdirektor in das preußische Kultusministerium (dem späteren Reichserziehungsministerium) unter Rust, dessen Staatssekretär er bereits am 30.6.1933 wurde. Aufgrund eines „offenen Bruchs“ mit Rust wurde Stuckart im November 1934 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Schon am 11. 3. 1935 übernahm er als Ministerialdirektor und Titularstaatssekretär die Abteilung I (Verfassung und Gesetzgebung) des Reichs- und preußischen Ministeriums des Innern (RMdI). Im März 1938 wurde er zum Staatssekretär im RMdI ernannt, ohne dass sein Aufgabenbereich erweitert wurde. Leitender Staatssekretär war weiterhin Pfundtner. Mit der Übernahme des Innenministeriums durch Himmler erfolgte seine Ernennung zum „Staatssekretär des Innern“ (S. 155). Als solcher konnte er weitgehend selbständig agieren, wenn auch sein Aufgabenbereich nicht alle Geschäftsbereiche des bisherigen Innenministeriums umfasste (S. 155). Nach der Einleitung, in der Jasch den biographischen Ansatz seiner Arbeit, den allgemeinen Forschungsansatz und die Quellenlage erläutert, befasst sich Jasch mit den Jugend- und Studienjahren Stuckarts unter dem Gesichtspunkt der „generationellen Prägung“ als Angehöriger der Kriegsgeneration und der früheren Radikalisierung und Sozialisierung im völkischen, antisemitischen Milieu (S. 17-51). Als Staatssekretär im preußischen Kultusministerium war er hauptverantwortlich für die Durchführung des Gesetzes „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. 4. 1933 (S. 79ff., zur Anwendung des Gesetzes auf das Lehrpersonal der Berliner Universität). Anfang 1935 und auch noch später legte Stuckart mehrere kirchenpolitische Denkschriften (mit Gesetzentwürfen) zu einer Verreichlichung der evangelischen Kirche vor (S. 99ff.). Anschließend behandelt Jasch die Tätigkeit Stuckarts im RMdI (Personal des Ministeriums, Stuckarts Aufgabenbereich und dessen Stellung im RMdI). Obwohl Stuckart bereits im Dezember 1933 die Aufnahme in die SS betrieben hatte, erfolgte diese erst im Herbst 1936 (S. 166ff.). In der Folgezeit war Stuckart bei Himmler, dessen Vertrauen er erlangte, wohl nicht ohne Einfluss (S. 172ff.).

 

In zwei umfangreichen Kapiteln befasst sich Jasch mit der Mitwirkung Stuckarts an der Rassen- und Judenpolitik des RMdI (S. 189-269) und mit dessen Mitwirkung an der „Euthanasie“ und der „Endlösung der Judenfrage“ (S. 269-372). Die Rassen- und Judenpolitik entwickelte sich zu einem eigenen Politikfeld, dessen Grundlagen im RMdI geschaffen und bis zuletzt vom RMdI hinsichtlich des betroffenen Personenkreises bestimmt wurden. In diesem Zusammenhang erwähnt Jasch auch die Pläne des RMdI zu einem Sippenamtsgesetz (S. 195; hierzu die Quellen bei W. Schubert, Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus. Ausgewählte Quellen, Paderborn 1993, S. 38ff.). Ausführlich geht Jasch auf die Rolle Stuckarts und seiner Mitarbeiter bei der Entstehung der Nürnberger Rassengesetze sowie ihrer Ausführungsbestimmungen ein (S. 209ff., S. 224). Hierbei geht es auch um Stuckarts Tätigkeit als Präsident des Reichsausschusses zum Schutze des deutschen Blutes (S. 228 ff.; Genehmigung von Eheschließungen zwischen „Halbjuden“ und „Deutschblütigen“) und um die Verwaltungspraxis bei der Erteilung von Ausnahmen nach § 7 der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz (S. 243ff.; Gleichstellung von „Geltungsjuden“ mit „Halbjuden“ und „Umstufung“ eines Juden oder „jüdischen Mischlings“ in eine andere für sie günstigere Kategorie). Entgegen den Aussagen Stuckarts und seiner Mitarbeiter nach 1945 kann man von einer „weitherzigen Praxis“ des Ministeriums nicht sprechen (S. 251ff.). Wie weit der Kommentar von Stuckart und Globke von 1936 zur Rassengesetzgebung eine durchgängig restriktive Linie verfolgte, ist bis heute umstritten (S. 258ff.). Die „Motivlage“ Stuckarts und seiner Mitarbeiter lässt sich heute ebenso wenig „mit Sicherheit“ klären wie Stuckarts subjektive Haltung in der Judenfrage (S. 265ff.). Ab 1936 war Stuckarts Ministerialabteilung an den Planungen für eine forcierte Auswanderung der Juden beteiligt und 1939/1940 am Rande mit den Euthanasie-Morden an Kindern befasst. Durch seine Mitarbeit an der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. 11. 1941 (Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bei Juden, die im Ausland lebten) und der 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 1. 7. 1943 (Vereinfachung des Vermögensverfalls; Ahndung von Straftaten von Juden nur durch die Polizei) lieferte Stuckart den „Rechtsrahmen“ für die Deportation der jüdischen Deutschen (S. 297ff.).

 

Auf der Wannsee-Konferenz am 20. 1. 1942 und den Folgebesprechungen lehnten Stuckart und seine Mitarbeiter die von Heydrich gewünschte Gleichstellung der „Mischlinge“ ersten Grades mit den Volljuden ab und sprachen sich für eine Zwangssterilisierung dieses Personenkreises aus (S. 316ff.). Ferner regte Stuckart an, an die Möglichkeit einer Zwangsscheidung von „Mischehen“ zu denken (S. 330). In der Folgezeit wurde im RMdI an einem Entwurf zur „Scheidung von Mischehen“ gearbeitet (S. 351ff.), der folgenlos blieb, da Hitler im Oktober 1943 eine Entscheidung in der Mischehenfrage ablehnte (S. 358). Möglicherweise war Stuckart auf der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 noch nicht „in allen Einzelheiten über den systematischen Charakter des bereits angelaufenen Massenmordes“ an Juden unterrichtet (S. 361). Jedoch dürfte er damals schon zumindest in groben Umrissen über das Genozidgeschehen unterrichtet gewesen sein. Inwieweit für Stuckarts Haltung in der Mischehenfrage philanthropische Motive – um Schlimmeres zu verhüten –, eine Rolle spielten, ist bis heute umstritten (vgl. S. 413f., 453). Im letzten Abschnitt seines Werkes befasst sich Jasch ausführlich mit der Verurteilung Stuckarts im Wilhelmstraßenprozess (Case No11), der vom November 1947 bis April 1949 dauerte (S. 388ff.). Grundlage der Verurteilung Stuckarts zu über drei Jahren Haft, die durch seine Internierung als bereits verbüßt galt, war das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. 12. 1945 (Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit). Ausführlich wird die Verteidigungsstrategie Stuckarts und seiner Anwälte beschrieben, die zahlreiche Persilscheine und Entlassungszeugen präsentierten (S. 401ff.). Stuckart bemühte sich, „das eigene Handeln als fremdgesteuert und befehlsbedingt, sich selbst jedoch als dem Radikalismus Einhalt Gebietender oder gar Widerstandskämpfer darzustellen“ (S. 408). Das Urteil sah es jedoch als erwiesen an, „dass Stuckart ein erbitterter Feind der Juden war und während seiner Amtstätigkeit vor und während des Krieges seine Stellung dazu benutzt hat, seine Gedanken in die Tat umzusetzen“ (S. 421). Seine Haltung in der Mischehenfrage wurde ihm zugute gehalten, jedoch darauf hingewiesen, dass Stuckart mit seinen Vorschlägen primär negative Wirkungen in der Bevölkerung habe verhindern wollen (S. 370, 422ff.). Der Spruchausschuss Hannover stufte Stuckart im September 1950 nur in die Gruppe IV (Mitläufer) ein. Nach dem Gesetz von 1951 zur „Beendigung der Entnazifizierung in Niedersachsen“ galt er als „entlastet“ (Kat. V). Eine Entscheidung der Berliner Spruchkammer von 1952 verurteilte ihn zu erheblichen Sühnemaßnahmen („Geldstrafe in Höhe des Einheitswerts seines Hausgrundstücks; Verlust aller Versorgungsleistungen“; sie wurde jedoch infolge seines Todes am 15. 11. 1953 nicht mehr rechtskräftig.

 

Das Werk wird abgeschlossen mit einem Anhang, der den Geschäftsverteilungsplan der Abt. I des RMdI vom 15. 7. 1936 und Kurzbiographien von Personen aus dem Umfeld Stuckarts enthält (S. 459ff., 462ff.). In diesem Zusammenhang weist Jasch darauf hin, dass sich im Sonderarchiv Moskau zahlreiche Personalakten aus dem RMdI und auch Archivalien aus der Abteilung I des Ministeriums befinden, die er nicht mehr habe konsultieren können. Es ist bedauerlich, dass bis heute eine deutsche Übersetzung der sehr detaillierten Findbücher des Moskauer Archivs nicht existiert. In seiner „Schlussbetrachtung“ stellt Jasch mit Recht fest, dass „trotz einer intensiven Beschäftigung „mit der Tätigkeit Stuckarts dessen Persönlichkeit letztlich schwer zu fassen“ sei (S. 451), nachdem er bereits an früherer Stelle bemerkt hatte, bei der Beurteilung der Rolle Stuckarts und seiner Mitarbeiter bei der Entstehung der Nürnberger Rassengesetze sei es schwer, „nicht der apologetischen Darstellung, die die Protagonisten in der Nachkriegszeit so geschickt entwickelten und miteinander abstimmten, zu verfallen“ (S. 265). Aus den überlieferten Dokumenten lässt sich nach Jasch entnehmen, dass Stuckart „nach dem Krieg jede Reue – möglicherweise aber auch jedes Unrechtsbewusstsein“ gefehlt habe. Abschließend stellt er fest, dass die Einflussmöglichkeiten seitens des Innenministeriums „keineswegs immer zur Milderung des Unrechts genutzt wurden, sondern vielmehr im Wege einer kumulativen Radikalisierung dazu beitrugen, den Entrechtungs- und Vernichtungsprozess noch effizienter und politisch problemloser zu gestalten“ (S. 457). Alles in allem ist es Jasch gelungen, den „Mythos der sauberen Verwaltung“, die „anständig“ geblieben sei (S. 454), aufzudecken. Verdeutlicht wird dies vor allem durch die minutiösen und behutsamen Analysen der Quellen insbesondere zur Entstehung und Durchführung der Nürnberger Rassengesetze und zur Wannsee-Konferenz einschließlich deren Folgekonferenzen und Schriftwechsel unter den Beteiligten. Nützlich wäre es gewesen, wenn Jasch die wichtigsten Quellen zumindest in ihren wesentlichen Teilen geschlossen im Anhang mitgeteilt hätte. Es bleibt zu wünschen, dass die zahlreichen weiteren Arbeitsbereiche Stuckarts in der Abteilung I des RMdI (Reichsreform, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Reform des Kommunal- und Verwaltungsrechts, europäische Neuordnung im Hinblick auf Verfassung und Verwaltung insbesondere des Ostens) erschlossen werden. Insgesamt hat Jasch mit seinem Werk „das Leben eines der führenden Juristen der NS-Zeit vor dem historischen Kontext seiner Beteiligung an der Ausgrenzung, Entrechtung und Vernichtung der Juden“ umfassend rekonstruiert (S. 12) und damit einen wichtigen Beitrag zur (Unrechts-)Geschichte der NS-Zeit erbracht.

 

Kiel

Werner Schubert