Jahr, Christoph, :Antisemitismus vor Gericht. Debatten über die juristische Ahndung judenfeindlicher Agitation in Deutschland (1879-1960) (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer-Instituts 16). Campus, Frankfurt 2011. 475 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

In der Berliner Habilitationsschrift (Humboldt-Universität, Institut für Geschichtswissenschaft) geht es um den „Versuch, Rechts- beziehungsweise Justizgeschichte und Antisemitismusforschung zusammenzuführen, die über Jahrzehnte weitgehend unverbunden nebeneinander existierten und sich erst in letzter Zeit einander annäherten“ (S. 23). Obwohl die Literatur zum Antisemitismus kaum noch überschaubar ist, fehlte es bisher noch an Untersuchungen, welche die Prozesse gegen Antisemiten „in ihren juristischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext einbetten, das heißt als eigenständigen Untersuchungsgegenstand behandeln“ (S. 26). Als Hauptquelle dienten neben insbesondere zeitgenössischen Schriften und Zeitungsartikeln die preußischen Ministerialakten im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem. Nicht systematisch erschlossen werden konnten die Archivüberlieferungen von Bayern, Baden, Württemberg, Hessen und Sachsen. Die Analyse Jahrs beschränkt sich auf eine vergleichsweise geringe Anzahl von Strafprozessen, die Aufsehen erregt haben und deshalb reichhaltig dokumentiert sind (Anklageschriften, Urteile der Instanzgerichte und des Reichsgerichts; Korrespondenz mit den Staatsanwaltschaften).

 

In einem ersten Teil klärt Jahr nach einem Literaturbericht die theoretischen, methodischen und begrifflichen „Voraussetzungen und Setzungen“ (S. 26ff.). Unter Agitation versteht Jahr eine „öffentliche, nicht nebensächliche Äußerung, die sich explizit gegen Juden als Juden richtet“ (S. 16). Das Kapitel II: „Staat, Recht, Emanzipation“ (S. 40-115) geht u. a. auch auf die Justizorganisation und das Justizpersonal ein. Als Straftatbestände zur Sanktionierung judenfeindlicher Agitation kamen in Betracht die §§ 130, 166 und 185ff. StGB, deren Normengeschichte Jahr zum Teil herausarbeitet. Die Anwendung des § 130 StGB (Fassung von 1872: „Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten und gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.“) war seit einem Urteil des Reichsgerichts vom 10. 11. 1899 (RGZ 32, 352f.) auch auf antisemitische Agitationen anwendbar, da auch die Juden nach Meinung des Reichsgerichts eine Klasse im Sinne dieser Norm bildeten (vgl. S. 192f.). Dagegen war der Tatbestand des § 185 StGB grundsätzlich auf die Individualbeleidigung beschränkt. Die Strafbarkeit einer Kollektivbeleidigung war nur dann gegeben, wenn der Täter sämtliche von einer Beleidigung umfasste Personen treffen wollte (S. 215f.; RGZ 18, 167, 169). Abschlossen wird das Kapitel II mit einer Geschichte der Judenfeindschaft, der Emanzipation und des politischen Antisemitismus (S. 81-115). – Im nächsten Abschnitt III: „Antisemitische Agitation und Straftat im Kaiserreich 1879-1914“ (S. 116-244) arbeitet Jahr zunächst die Entfaltung des postemanzipatorischen Antisemitismus heraus (S. 116-151). In diesem Zusammenhang geht er auf die Strafverfolgung von Antisemiten ein, für die oft nicht die Judenfeindschaft als solche, sondern „vermeintlich hohe Werte“ (S. 242) wie das Ansehen staatlicher Institutionen und Personen maßgebend war. Stillschweigend wurde vorausgesetzt, dass der Antisemitismus eine „legitime politische und gesellschaftliche Bewegung“ sei (S. 242) und nur gegen den „Radauantisemitismus“ eingeschritten werden sollte. Es folgt ein Abschnitt über die Reaktion der Betroffenen (Abscheu, Aufklärung, Abwehr; S. 151-216). Einen Wendepunkt in der Geschichte der „jüdischen Abwehrarbeit“ brachte die Gründung des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (S. 155f.). In zwei weiteren Abschnitten behandelt Jahr die Prozesse gegen die antisemitischen Agitatoren von Hermann Ahlwardt (S. 161ff.) und gegen Walter Graf Pückler (S. 186ff.), der in seiner achtjährigen Laufzeit als „Bierhallenagitator“ rund 200 Hetzreden hielt (S. 187) und gegen den mindestens 20 Strafverfahren anhängig waren. Zwei mit seiner Agitation zusammenhängende Prozesse führten zu grundlegenden Urteilen des Reichsgerichts zu § 130 StGB (RGSt 32, 352; 34, 268ff.). Abschließend behandelt Jahr zusammenfassend die juristischen Probleme und Entwicklungen (S. 209ff.) und die gesellschaftlichen Debatten (S. 219ff.). Insgesamt kommt Jahr zu dem Ergebnis, dass man dem Kaiserreich, „auch im Hinblick auf seinen Umgang mit dem Antisemitismus“ von staatlicher wie juristischer Seite, „mit einem Schwarzweiß-Gemälde nicht gerecht zu werden vermag“ (S. 396).

 

Im Abschnitt IV: „Antisemitische Agitation und Norm: Das Zeitalter der Weltkriege“ (S. 245ff.) geht es zunächst um den Judenhass und den „Burgfrieden“ im Ersten Weltkrieg (S. 245-253). Die Weimarer Republik wird unter der Überschrift „Antisemitismus als Demokratiefeindschaft“ (S. 253ff.) behandelt. Der Abschnitt über die Judikative (S. 262-270) ist relativ knapp. S. 276ff. stellt Jahr zwei Fallbeispiele zur Anwendung der §§ 130, 166 und 185 StGB heraus. Eine nicht unwichtige Rolle spielte die Frage, ob auf antisemitische Agitationen das Republikschutzgesetz anwendbar war (vgl. S. 267f.). Für die NS-Zeit weist Jahr auch einige wenige Warnungen staatlicher Stellen vor „ungesetzlichen Maßnahmen“ antisemitischen Inhalts nach (S. 289ff.). Zu den „Paradoxien“ der im Werk Jahrs behandelten Thematik gehört insbesondere § 297 Abs. 1 des StGB-Entwurfs von 1936 (nicht § 126; S. 304): „Volksverhetzung. Wer öffentlich einen Teil der Bevölkerung gegen einen anderen aufhetzt oder öffentliche Angelegenheiten hetzerisch erörtert, wird mit Gefängnis bestraft“ (J. Regge/W. Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, II Bd. 1 1, 1988, S. 446), der mit dem neuen Tatbestand des § 130 StGB von 1960 (ebenfalls „Volksverhetzung“ vieles gemeinsam hatte (zitiert von Jahr nach Joachim Lömker, Die gefährliche Abwertung von Bevölkerungsteilen [§ 130 StGB], Diss. iur. Hamburg, 1970, S. 16). Im Abschnitt V: „Antisemitische Agitation und Skandal: Deutschland 1945-1960“ (S. 320-398) berichtet Jahr zunächst über die Verfassungsdiskussion und Gesetze gegen „Rassenhetze“ und kommt dann zum Verbotsverfahren gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP; S. 340ff.). Im Abschnitt „Skandalgeschichte“ (S. 346ff.) geht es u. a. um die Fälle Veit Harlan, Wolfgang Hedler und Friedrich Nieland (S. 349ff.). Ausführlich kommt die Neufassung des § 130 („Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er 1. zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt, 2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder 3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft …“) zur Sprache, ohne dass Jahr die Akten des Bundesministeriums der Justiz und des Rechtsausschusses des Bundestages heranzieht, aus denen sich eventuelle Details der Mitwirkung des auch von Jahr erwähnten Josef Schafheutle, eines Juristen aus dem Reichsjustizministerium, an der Änderung des § 130 StGB ergeben würden. S. 380ff. sind die gesellschaftlichen Debatten nur noch knapp angesprochen.

 

Der Epilog (S. 399-404) bringt mehr einen Ausblick als eine Zusammenfassung. Das Fehlen von Registern dürfte die Erschließung des inhaltsreichen Bandes etwas beeinträchtigen. Aus rechtshistorischer Sicht wäre anzumerken, dass im Abschnitt über die „Justizorganisation“ (S. 60ff.) die Grundzüge der Gerichtsverfassung und des Strafprozesses hätten detaillierter herausgearbeitet werden sollen. Auch eine detailliertere Darstellung der Strafprozesse und Einziehungsverfahren hinsichtlich der antisemitischen Schriften wäre erwünscht gewesen. Hingewiesen sei noch darauf, dass Jahr besonders für die Kaiserzeit eine Reihe von reichsgerichtlichen Revisionsurteilen heranzieht (vgl. S. 132, 166, 176, 207), die in den Ministerialakten zu finden sind. Eine Erschließung sämtlicher Urteile des Reichsgerichts von 1879 bis 1945 (vorhanden in der Bibliothek des Bundesgerichtshofs, teilweise auch im Bundesarchiv Berlin) steht leider noch immer aus. Mit seinem auch für den Rechtshistoriker wichtigen Werk hat Jahr die bedeutendsten Prozesse gegen Antisemiten zwischen 1879 und 1960 und deren juristisches und gesellschaftliches Umfeld erschlossen. Die methodischen Hinweise und die umfassende Heranziehung der archivalischen Quellen insbesondere für die Strafverfahren der Kaiserzeit enthalten auch für den Rechtshistoriker wertvolle Anregungen.

 

Kiel

Werner Schubert