Hofbauer, Hannes, Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung. Rechtsprechung als politisches Instrument. Promedia, Wien 2011. 264 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Der 1955 geborene, politisch der Linken nahestehende Wirtschaftshistoriker und Publizist Hannes Hofbauer sieht EU-Europa auf einem bedenklichen Weg: Mit Hilfe sogenannter Erinnerungsgesetzgebung, wegweisend festgeschrieben im Rahmenbeschluss 2008/913/JI des EU-Rates vom 28. November 2008 „Zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, würden immer häufiger historisch strittige Vorgänge mit dem juristischen Etikett des Völkermordes versehen und damit dem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs entzogen. Wer es sich erlaube, solche per Gerichtsurteil dekretierten „Völkermorde“ mit guten Argumenten in berechtigten Zweifel zu ziehen, laufe zukünftig immer mehr Gefahr, selbst in die Mühlen der Justiz zu geraten und einer strafrechtlichen Verurteilung anheimzufallen. Der Verfasser sieht in dieser restriktiven Tendenz den allgemeinen Versuch, in der Maske des Kampfes gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit das klassische Völkerrecht auszuhebeln und den Weg zu ebnen für eine ungezügelte, von wirtschaftlich-kapitalistischen, militärischen und politischen Interessen genährte Interventionspolitik der westlichen Mächte, allen voran der USA, die mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90 ihren diskursiven Widerpart im ehedem bipolaren, nunmehr unipolaren System verloren und zugleich die alleinige Deutungshoheit im Politischen erlangt hätten. Zu diesen – häufig menschenrechtlich und demokratiepolitisch verbrämten - Zwecken würden auch die Justiz und das Völkerstrafrecht instrumentalisiert.

 

Seine ob dieser gewagten Konstruktion fast verschwörerisch anmutende und doch im Grundsätzlichen nicht ganz von der Hand zu weisende Theorie vertritt der Verfasser mit erstaunlichem Mut. Als ein markantes Beispiel dafür sei seine eigenwillige Interpretation des Jugoslawienkriegs angeführt, in dem – so Hofbauer –  „der Vorwurf des Völkermords als politisch brauchbar erkannt wurde: einerseits von den entsprechenden Konfliktparteien, die dem jeweiligen Gegner Genozid vorwarfen, andererseits aber auch von ausländischen Interessen. Am auffälligsten geschah dies im jugoslawischen Völkermorden mit anschließender NATO-Intervention. Deutschland, die EU und die USA stellten sich nach und nach auf die Seite all jener Kräfte, denen an einer Zerschlagung Jugoslawiens gelegen war. Die daraus resultierende antiserbische Politik gipfelte in dem von keinem UN-Mandat legitimierten und darum völkerrechtswidrigen Angriff der damals neunzehn Mitglieder zählenden Allianz auf Jugoslawien am 24. März 1999. Spätere Rechtfertigungen dieser Aggression brachten in vollständiger Umkehrung  der Verhältnisse den Begriff ‚Völkermord‘ gegen Belgrad in eine ideologische Position, in der er sich bis heute über das zweifelhafte Jugoslawien-Tribunal (ICTY) in Den Haag gehalten hat. Die Ausstellung eines Haftbefehls dieses Tribunals gegen Slobodan Milošević mitten im Bombenhagel der NATO am 22. Mai 1999 war eher Teil des illegitimen NATO-Krieges als ein Akt einer unabhängigen Gerichtsbarkeit“ (S. 31).

 

Gleichsam als advocatus diaboli erläutert der Verfasser anhand verschiedener prominenter Beispiele aus der Weltgeschichte, wie sehr es vom jeweiligen Standpunkt des Betrachters und der Berücksichtigung  entsprechender Kontexte abhängt, ob ein Ereignis nun tatsächlich als Völkermord qualifiziert wird oder nicht. Ein grundsätzliches Problem sei nämlich die in der UN-Genozidkonvention vom 9. Dezember 1948 verankerte, „schwammige“ Definition des Tatbestands „Völkermord“, die die Gefahr der „Inflationierung“ (S. 35) in sich berge, wodurch sowohl der Singularitätscharakter des Holocaust der Gefahr einer Relativierung ausgesetzt als auch jede Art von Gesinnungsgesetzgebung in ihrer Absurdität manifest würde. Am ausführlichsten, nämlich über jeweils um die 40 Druckseiten, behandelt Hannes Hofbauer die armenische Tragödie von 1915 (ihre Qualität als Völkermord zu bestreiten, führt in der Schweiz, sie als solchen zu behaupten, hingegen in der Türkei zu strafrechtlichen Konsequenzen) und die Massaker von Srebrenica 1995. Kritische Blicke werden aber auch den Kreuzzügen, dem Mongolensturm, den Geschehnissen in Darfur, der durch die landwirtschaftliche Kollektivierung des stalinistischen Systems verursachten Hungerkatastrophe in der Ukraine 1932/1933, der israelischen Siedlungspolitik in Palästina und der weitgehenden Vernichtung der indigenen Bevölkerung durch die Besiedelung Nordamerikas und des australischen Kontinents zuteil. Wer möchte bestreiten, dass hinter all diesen Fakten menschliche Tragödien gewaltigen Ausmaßes stehen, und dennoch sei die Frage, in welcher Weise sich jeweils eine über „gewöhnliche“ Kriegsverbrechen hinausgehende völkermörderische Intention eindeutig nachweisen lasse, in jedem Fall kaum seriös zu beantworten.

 

Es widerspreche daher nicht nur dem Menschenrecht der freien Meinung, sondern auch jedem wissenschaftlichen Grundverständnis, die offene Auseinandersetzung durch Erinnerungsgesetze, wie sie vor allem Frankreich forciert (Loi Gayssot, Loi Taubira, Loi Mékachéra) und osteuropäische Staaten gegen das frühere kommunistische System in Stellung bringen, zu knebeln. Der Verfasser sieht diese Entwicklungen darüber hinaus  eingebettet in den allgemeinen Versuch, über die aktuelle Terrorhysterie eine Abwendung vom traditionellen Tatstrafrecht hin zu einem präventiven „Feindstrafrecht“ (Günther Jakobs, Klaus Malek) zu vollziehen, ureigentlich Politisches zu verrechtlichen und zugleich einer  „Beschlagnahme des Rechts durch jene, die sich – innerhalb oder außerhalb der Politik – die Definitionshoheit über diskutable Ereignisse aneignen“ (S. 223), Vorschub zu leisten.

 

Resümiert man die sich zu einem guten Teil aus Internetquellen speisende, bedauernswerter Weise durch keinerlei Register aufgeschlossene Studie, so ist festzuhalten, dass sich ihr geistiger Vater von der Kapitalismuskritik über das Unbehagen am Machtmonopol der USA bis hin zum drohenden Ausufern des Schadenersatzrechts einer erklecklichen Anzahl an Versatzstücken aktueller Kontroversen bedient, die er nicht immer in einen schlüssigen Kausalzusammenhang zu stellen vermag. Was die Schlussfolgerungen aus den angeführten historischen Beispielen betrifft, wird der Leser mancherorts wohl auch zu anderen Einschätzungen gelangen, manches, wie im Fall Libyens und Gadafis, hat der Gang der Geschichte seit Redaktionsschluss überholt. Auch die französische Erinnerungsgesetzgebung zu Armenien hat sich mittlerweile weiterentwickelt. Wer sich mit den Ereignissen von Srebrenica näher beschäftigt hat, wird feststellen, dass zahlreiche für eine umfassende Beurteilung des dortigen Geschehens nicht unerhebliche Fakten, die den Ablauf  der Massaker selbst und deren forensische wie justizielle Aufarbeitung betreffen, hier entweder gar nicht angeführt oder nur selektiv oder einseitig wiedergegeben werden. Bei allem Verständnis für das primäre Anliegen des Verfassers, der Meinungsfreiheit eine Lanze zu brechen und die Argumentation dementsprechend zuzuspitzen, hätte eine ausgewogenere, weniger spekulativ-ideologisch gefärbte Beurteilung der in Diskussion stehenden normativen Akte und ihrer Hintergründe der hier besprochenen Arbeit wohl nicht geschadet.

 

Wer, wie Hofbauer in seinen Ausführungen, so sehr den Vorrang der nationalen Souveränität betont, wird sich auch die Frage gefallen lassen müssen, auf welche Art dann den Erfordernissen des humanitären Völkerrechts Geltung verschafft werden soll. Ein solcher Standpunkt provoziert seinerseits provokante Fragen, werden doch durch die Verabsolutierung dieses Prinzips gravierende Menschenrechtsverletzungen gleichsam zur inneren Angelegenheit und als Kollateralschäden von Bürgerkriegen bagatellisiert, das Untätigbleiben angesichts offensichtlichen Mordens würde legitimiert.  Die aktuelle Lage in Syrien illustriert diese Problematik trefflich, und selbst Phänomene wie der Holocaust geraten unter einem solchen Blickwinkel in ein völlig schiefes und abstruses Licht. Dazu dürfte wohl auch nicht nur unter Juristen außer Frage stehen, dass Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag in all ihrer Unvollkommenheit, was die Tatsachen angeht, dass er von Mächten wie den USA, Russland, China, Indien, Israel, dem Iran, dem Irak, Pakistan, der Türkei, Saudi Arabien, Nordkorea, Kuba oder dem Sudan (noch) nicht ratifiziert worden ist und sich zwangsläufig auch dem Einfluss unterschiedlicher Machtinteressen ausgesetzt sieht, einen generellen Fortschritt gegenüber einem Zustand darstellen, in dem Täter mit Verantwortung für schwerste Verbrechen auf ihre Immunität pochen konnten und nichts zu befürchten hatten.

 

Dieser Einschränkungen ungeachtet vermittelt der Text durchaus das Gefühl, einen Nerv der Zeit zu treffen, das Denken befördert er allemal. Dort, wo mit dem Strafrecht gegen Meinung vorgegangen werden soll, ist nämlich in der Tat Vorsicht geboten.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic