Henrich-Franke, Christian, Gescheiterte Integration im Vergleich. Der Verkehr - ein Problemsektor gemeinsamer Rechtsetzung im Deutschen Reich (1871-1879) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958-1972). Steiner, Stuttgart 2012. 431 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Bereit der Göttinger Öffentlichrechtler Christian Starck hat 1992 festgestellt, dass „die derzeit stattfindende europäische Rechtsvereinheitlichung im weiteren Sinne unter Einschluss der Rechtsangleichungen einen Vergleich mit der Rechtsvereinheitlichung in Deutschland in Vorwegnahme und in Folge der Reichsgründung“ nahelege (zitiert nach Henrich-Franke, S. 52). Erstmals liegt mit dem Werk Henrich-Frankes ein solcher „diachronischer Vergleich“ der Politikprozesse in der EWG (ab 1993 EU) und im frühen Deutschen Reich für wichtige Bereiche des Verkehrs vor. Die Untersuchungen von Henrich-Franke verstehen sich als ein Beitrag zur „politikwissenschaftlichen vergleichenden EU-Forschung, der historischen Integrationsforschung und der historischen Forschung zum Bismarck-Reich“ (S. 32), und zwar für die Zeiträume von 1871-1879 (Deutsches Reich) und von 1958-1972 (EWG). Henrich-Franke untersucht sowohl die „Strukturen beider sich integrierender politischer Systeme“ als auch die Entscheidungsprozesse im Hinblick auf die verkehrspolitischen Projekte des Deutschen Reichs und der EWG (S. 38). Dabei setzt er voraus, dass die politischen Systeme des Kaiserreichs mit denjenigen der EWG miteinander vergleichbar sind (S. 32, 57ff.). Eine Besonderheit des Werks ist darin zu sehen, dass es sich nicht mit „Erfolgsgeschichten“, sondern mit „gescheiterter Politikintegration“ (S. 32) beschäftigt, die in gleicher Weise zur Politik- und Rechtsgeschichte gehören.

 

Nach der Behandlung der politischen Strukturen im Vergleich (politische Gesamtsysteme, verkehrspolitische Strukturen) und der Rahmenbedingungen und Grundvoraussetzungen gemeinsamer Politikbedingungen sowie der nationalen Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit (S. 57-146) befasst sich Henrich-Franke mit den verkehrspolitischen Entwicklungen hinsichtlich der Eisenbahnpolitik im Deutschen Reich (S. 149-241). Zunächst geht es um die eisenbahnpolitischen Entwicklungen zwischen 1866/1871 und 1879 im Überblick (S. 149ff.). Es folgt ein Abschnitt über die Eisenbahnartikel in der Reichsverfassung und über die Errichtung des Reichseisenbahnamts durch ein Gesetz vom 27. 6. 1873. Strittige Punkte wie das Problem der Aufsichts- und Kontrollkompetenzen des Reichs gegenüber den Privatbahnen, und einer übergreifenden Aufsicht wurden ausgeklammert (S. 179ff.), so dass sich insbesondere die Mittelstaaten Bayern, das zudem über Reservatrechte im Eisenbahnwesen verfügte, Sachsen und Württemberg gegen „Übergriffe der neuen Behörde“ (S. 183, nach einem Bericht des bayerischen Staatsministers des Äußern an König Ludwig von 1873) gesichert sahen. Im Einzelnen gliedert Henrich-Franke seine Ausführungen zum Gesetz von 1873 nach der Vorgeschichte, der Initiativphase, der Verhandlungs- und der Entscheidungsphase. Anhand von Fallbeispielen (Entwürfe zu einem Reichseisenbahngesetz vom März 1874, vom April 1875 und vom Mai 1879 sowie Gesetzentwurf von 1879 über das Gütertarifwesen der Eisenbahn) geht Henrich-Franke auf die Interaktionen zwischen Preußen und vor allem den Mittelstaaten, auf die Inhalte der Entwürfe und auf die Gründe des Scheiterns der genannten Gesetzesvorhaben, von denen nur die Gütertarifgesetzesvorlage bis in die offizielle Verhandlungsphase gebracht werden konnte (S. 236ff.), ein. Die genannten Vorhaben scheiterten, weil die Mittelstaaten ihre Aufsichts-, Kontroll- und Tarifkompetenzen im Eisenbahnwesen nicht verlieren und den wohl wichtigsten Teil ihrer Hoheitsrechte nicht aufgeben wollten. Ferner sahen sie im Verlust der Kontrollrechte eine erhebliche Gefahr für ihre Staatshaushalte, deren Haupteinnahmequelle die Eisenbahnabgaben darstellten (S. 200). Das von Henrich-Franke entwickelte Modell einer Analyse der einzelnen Gesetzgebungsphasen des Reiches hat den Vorzug, dass es sich unschwer auf andere wichtige, auch nicht realisierte Gesetzesvorhaben des Reichs übertragen lässt. Im Übrigen zeigt sich auch an den verkehrsrechtlichen Vorhaben, dass Bismarck eine Majorisierung der Mittelstaaten bei wichtigen Fragen vermeiden wollte. Ferner ist hinsichtlich der Gesetzgebung des Reiches auch für den Rechtshistoriker wichtig, dass hierbei immer die diplomatischen Verhandlungen der Mittelstaaten untereinander berücksichtigt werden sollten. Hingewiesen sei auch noch darauf, dass der erste Entwurf zu einem Reichseisenbahngesetz von 1874 Vorschriften über das Frachtrecht enthielt, welche die §§ 390-431 HGB ersetzen sollten (S. 189), und dass der dritte Entwurf ein Reichsverwaltungsgericht vorsah (S. 211). Die Einsetzung von Spezialkommissionen zur Aufstellung von Gesetzentwürfen im Jahre 1879 durch den Bundesrat war ein „Politikansatz der Reichsregierung“ (S. 215), den diese und der Bundesrat u. a. bereits hinsichtlich der Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs verfolgt haben (vgl. W. Schubert, in: Jakobs/Schubert, Beratungen des BGB, Materialien, 1978, S. 186ff.).

Ähnlich wie der Abschnitt über das Deutsche Reich sind die Teile des Werks über verkehrspolitische Entwicklung in der EWG strukturiert (S. 242ff.). Mit der Verordnung von 1968 über das Marginaltarifsystem für den zwischenstaatlichen Güterverkehr (S. 296-335) wurde nur ein Minimalbestandteil der vom Rat vorgesehenen Regelung verwirklicht. Das Gleiche gilt für die Verordnung von 1968 über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschifffahrtsverkehrs (S. 335-376). Im Schlussteil (S. 379-401) analysiert Henrich-Franke die strukturellen, prozessualen und inhaltlichen Ursachen des Scheiterns einer gemeinsamen Verkehrspolitik im frühen Deutschen Reich und in der EWG und stellt einige Thesen auf, die „mit Blick auf eine Vermeidung des Scheiterns von Politik in (jungen) Mehrebenensystemen wie dem Deutschen Reich oder der EWG als relevant“ zu erachten seien (S. 399f.). Für den der EWG gewidmeten Teil wertet Henrich-Franke insbesondere die Bestände des Archivs der EWG-Kommission in Brüssel, des Bundesarchivs Koblenz und des Außenministeriums der Niederlande aus, da die niederländischen und deutschen Vertreter in der EWG als Antagonisten auftraten (S. 34). Insgesamt ist zu wünschen, dass die Untersuchungen Henrich-Frankes, die wichtige Bereiche des Verkehrsrechts der frühen Kaiserzeit, die verkehrsrechtlichen Projekte der EWG bis 1972 sowie den Ablauf der jeweiligen Gesetzgebungsvorgänge erschließen, auch bei den Rechtshistorikern die Beachtung findet, die das Werk besonders auch in methodischer Hinsicht verdient.

 

Kiel

Werner Schubert