Hagner, Michael, Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls - Erziehung, Sexualität und Medien um 1900. Suhrkamp, Berlin 2010. 280 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der in Bochum 1960 geborene Verfasser wurde nach dem Studium der Medizin und der Philosophie an der Freien Universität in Berlin 1987 mit einer Dissertation zur Geschichte vom Licht im Auge und der Physiologie des Druckphosphens im Verhältnis zu den jeweils zeitgenössischen Sehtheorien promoviert. Danach war er in London, Lübeck, Göttingen und Berlin tätig. Seit 2003 ist er ordentlicher Professor für Wissenschaftsforschung an der Technischen Hochschule in Zürich mit besonderem Interesse an der Geschichte der Hirnforschung.

 

Ausgangspunkt des vorliegenden Werkes ist ein in Bayreuth im Oktober 1903 durchgeführter Strafprozess, in dem der 23jährige Student der Rechtswissenschaft Andreas Dippold als Hauslehrer wegen Körperverletzung mit Todesfolge bzw. Körperverletzung an zwei ihm anvertrauten Söhnen eines Bankiers zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Diesem Geschehen widmet sich der Verfasser in fünf Kapiteln. Zuerst stirbt der 14jährige Heinz Koch an den überharten Züchtigungen wegen Onanierens, dann wird ermittelt und geurteilt, danach sehen die Medien einen Skandal und handelt der Verfasser vom Nutzen und Nachteil der Humanwissenschaften.

 

Ausgangspunkt des Verfassers war nach seiner Nachbemerkung ein Aktenfund im Archiv der Universität Düsseldorf um das Jahr 2000. Er hat ihn so angeregt, dass im Laufe der Zeit eine spannende Geschichte mit Weiterungen bis nach Südamerika entstand. Sie bewegt sich sorgfältig in einer komplexen, mit Anmerkungen und Literaturnachweisen versehenen Gemengelage, ohne alle mit ihr verbundenen Ungewissheiten eindeutig klären zu können, bereichert aber in jedem Fall die Kriminalitätsgeschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts gekonnt und ansprechend um manche Einzelheiten eines Aufsehen erregenden Einzelfalls.

 

Innsbruck                                                        Gerhard Köbler