Eckart, Wolfgang Uwe,
Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen. Böhlau, Wien 2012. 567
S., 48 Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.
Schon seit den Anfängen der Menschen war ihnen ihre
Gesundheit in wachsendem Maße von Bedeutung. Aus diesem Interesse erwuchs
spätestens in der griechischen Antike ein gebündeltes hochstehendes Wissen, dem
sich selbst in der Gegenwart die Fachvertreter noch durch einen beruflichen Eid
verbunden fühlen. Über die lateinische Sprache wurde die Medizin danach ein
universitäres Bildungsfach, dessen Kenntnisse dem Einzelnen wie der Gesamtheit
so bedeutsam sind, dass die Politik dafür vielfach ein eigenes Ministerium
eingerichtet hat.
Der Verfasser des vorliegenden, mit einem Foto des
Reichsgesundheitsführers in der Uniform eines SS-Gruppenführers Leonardo Conti
vor aufgeweckten Schulkindern mit freigemachtem Oberkörper geschmückten Werkes
ist als Professor für Geschichte der Medizin in Heidelberg tätig. Geboren in
Schwelm 1952, wurde er nach dem Studium von Geschichte, Medizin und Philosophie
in Münster 1977 mit einer Dissertation über den Wittenberger Arzt Daniel
Sennert (1572-1637) promoviert und 1986 auf Grund einer Schrift über deutsche
Ärzte in Japan und China habilitiert. Als seine Forschungsschwerpunkte sind
innerhalb der umfassenden Geschichte der Medizin, für die er 2005 die fünfte
Auflage eines Standardwerks veröffentlicht hat, die Entstehung der
neuzeitlichen Medizin im 16. und 17. Jahrhundert, die Medizin im europäischen
Kolonialimperialismus und die Medizin in der Weimarer Republik und im
Nationalsozialismus verzeichnet.
Für den letztgenannten Bereich gab es bisher zwar viele
Einzelstudien, aber noch keine neue Gesamtdarstellung, wie sie der Verfasser
nach einer kurzen Einleitung in sechs chronologisch-systematisch geordneten
Kapiteln bietet. Dabei geht er von Ideen, Ideologien und politischen
Orientierungen bis 1933 aus, behandelt danach die biodiktatorische Praxis nach
1933 mit Arisierung, erbbiologischer Praxis auf Grund des Gesetzes zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses, Vernichtung lebensunwerten Lebens,
Leistungsmedizin, völkischer Geburtshilfe, Leinwandhelden und Herzensnahrung,
die medizinische Forschung an den verschiedenen medizinischen Fakultäten
einschließlich tödlicher Humanexperimente, die Medizin im Krieg und nach dem
Zusammenbruch und endet überzeugend bei der nationalsozialistischen Medizin vor
Gericht in Kriegsverbrecherprozessen, Ärzteprozessen und
„Euthanasie“-Prozessen. Insgesamt bietet das mit angefügten Anmerkungen, 48
Abbildungen, einem umfangreichen Literaturaufweis, einem Namensverzeichnis und
einem Sachregister von Abteilung für Erb- und Rassepflege im Reichsausschuss
für den Volksgesundheitsdienst bis Zyklon B versehene, die Möglichkeiten und
Gefahren politisch verwendeter Medizin eindringlich schildernde Werk einen zu
weiteren Arbeiten einladenden überzeugenden Überblick über ein wichtiges
Kapitel deutscher Medizingeschichte.
Innsbruck Gerhard Köbler