Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Band 3 Deutsches Reich und Protektorat September 1939 – September 1941, bearb. v. Löw, Andrea. Oldenbourg, München 2012. 796 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Auftrag des Bundesarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte sowie der Lehrstühle für Neuere und Neueste Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und für Geschichte Ostmitteleuropas der Freien Universität Berlin entsteht seit 2008 unter Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine auf 16 Bände projektierte Edition, welche die Verfolgung und Ermordung des europäischen Judentums durch die Machthaber des Dritten Reiches in ausgewählten, zeitlich und territorial geordneten Quellentexten dokumentiert und sich künftig unter der Sigle VEJ in der wissenschaftlichen Literatur zitiert wissen will. Erschienen sind mittlerweile, neben der aktuellen Publikation, vier Bände: Deutsches Reich 1933 - 1937 (Bd. 1), 1938 - August 1939 (Bd. 2), Polen September 1939 – Juli 1941 (Bd. 4) sowie Sowjetunion mit annektierten Gebieten I (Bd. 7).

 

Dem Vorwort und den editorischen Vorbemerkungen folgt eine fünfzigseitige Deskription der historischen Geschehnisse im behandelten Zeitraum mit dem Fokus auf den gegen die als jüdisch definierten Bevölkerungsteile gerichteten Verfolgungshandlungen. Zunächst werden die Vorgeschichte, Entstehung und Verwaltung des sogenannten Reichsprotektorats Böhmen und Mähren (ab 16. März 1939) im Kontext antijüdischer Maßnahmen abgehandelt, bevor, gestützt auf einschlägige Fachliteratur, im Anschluss die mit Kriegsbeginn eskalierende Verfolgung der Juden im Deutschen Reich, denen „die Propaganda […] ohnehin die Schuld am Krieg […] zu(wies) und […] somit die Legitimierung für deren Entrechtung (lieferte)“ (S. 26), über den Terror, die „Euthanasie“, die jüdische Selbstverwaltung, erste Deportationen, den Madagaskar-Plan, die jüdischen Auswanderungsbemühungen und die Auswirkungen des einsetzenden Vernichtungskriegs im Osten konturiert wird. Diese verdienstvollen Ausführungen bieten keine neuen revolutionären Erkenntnisse, ersparen aber dem mit der Materie weniger vertrauten Leser die zeitaufwändige Auseinandersetzung mit der umfangreich vorhandenen Forschungsliteratur, indem sie ihm ein solides Grundgerüst zur Einordnung der präsentierten Quellen bereitstellen.

 

Jene gliedern sich in zwei große Abschnitte: Der erste, mit etwas mehr als zwei Drittel der Materialien größere Teil der insgesamt 320 Dokumente (Dok. 1 – 234), illustriert die Lage der jüdischen Bevölkerungsgruppe im Deutschen Reich, das verbleibende knappe Drittel (Dok. 235 – 320) zielt ab auf die Verhältnisse im Protektorat Böhmen und Mähren. Die antijüdische Politik folge hier „einem ähnlichen Muster wie in Deutschland und Österreich“ und werde daher im vorliegenden Band sowie in den (erst erscheinenden) Bänden 6 (Oktober 1941 – Juni 1943) und 11 (Juli 1943 – 1945) „zusammen mit der im Deutschen Reich behandelt“ (S. 14). Die Perspektive, die sich dem Nutzer eröffnet, wird multidimensional und in einer Verschränkung der Hierarchieebenen gesucht, durch bewusstes Nebeneinanderstellen der „Aktivitäten und Reaktionen von Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Überzeugungen und Absichten, an verschiedenen Orten, mit jeweils begrenzten Horizonten und Handlungsspielräumen“, woraus „das zufällige und widersprüchliche Nebeneinander der Ereignisse“ nachvollziehbar werden soll, „wie es sich den Zeitgenossen darstellte“ (S. 7). Folglich beschränkt sich das Spektrum der Quellenbestände keineswegs ausschließlich auf amtliche Schriften, die vor allem in Form verschiedener Verwaltungsakte unterschiedlicher Behörden repräsentiert sind, sondern bietet im Gegenzug auch einen reichen Fundus an Ego-Dokumenten, aus deren biographischer Kommentierung, was die Opferseite angeht, nur allzu häufig das tragische Ende ihrer Urheber in einer der Vernichtungsinstitutionen des NS-Regimes ersichtlich wird.

 

Neben den Erlass Hitlers „zur Festigung deutschen Volkstums“ vom 7. Oktober 1939, mit dem Heinrich Himmler die zentralen rassenpolitischen Kompetenzen hinsichtlich der Siedlungsmaßnahmen im deutschen Herrschaftsraum zugeordnet wurden (Dok. 18), tritt so beispielsweise eine Diktatübung von Schülern der 8. Klasse zu „barfüßige(n) Polenweiber(n) und schmierige(n) Kaftanjuden“ (Dok. 13). Im März 1940 wehrt sich ein SS-Sturmbannführer Heckmüller dagegen, von ihm erlassene Anordnungen gegenüber jüdischen Arbeitern in Eisenerz – sei es doch jedem „anständige(n) Deutsche(n)“ nicht zumutbar, „wenn Juden in demselben Wartezimmer beim Arzt, in derselben Krankenstube im Krankenhaus oder in derselben Gastwirtschaft sind wie er“ oder „dasselbe Standkonzert anzuhören und dieselbe Promenade zu benutzen“ (S. 218) - rückgängig zu machen (Dok. 76), und in ein ähnliches Horn stößt Elisabeth Butenberg aus Rheydt (Dok. 143), die in ihrem (orthographisch fehlerhaften) Brief dem Ortsgruppenleiter der NSDAP vorschlägt, in der Reichsbahn „Judenabteile“ einzurichten und Juden vom Transport in Straßenbahnen ohne Anhänger auszuschließen, ginge doch nicht an, wie es ihrer „Tochter und Kameradinnen“ der Staatlichen Frauenschule in Mönchengladbach „öfters passiert, von einem Judenlümmel mit dreistgierigen Blicken fast entkleidet [zu] werden“, eine aus ihrer Sicht „unerträgliche Zumutung für einen rassebewußten Deutschen Menschen“ (S. 381).

 

Im Kontrast zu solchen denunziatorischen Äußerungen stehen viele oft ergreifende Zeugnisse der Opfer, die tiefste Verzweiflung ebenso offenbaren wie Selbstironie oder Stolz. „Liebe Rosa, habe vielen Dank für Deine Pflege, leb wohl mit allen Lieben. Dort ist man besser wie hier. Ich halte es nicht mehr aus, wie man uns bedrückt“, schreibt Rica Neuburger in ihrem Abschiedsbrief, bevor sie im Oktober 1939 aufgrund der Schikanen gegen Juden den Gashahn aufdreht und sich das Leben nimmt (Dok. 21). Bisweilen wurden die massiven Einschränkungen in allen Lebensbereichen in poetischer Form und mit Galgenhumor verarbeitet: „Selig, o selig, ein Jude zu sein. Einst mußte der Jud als Beamter sich plagen, dem Chef, diesem Ekel, ‚Guten Morgen’ sagen, Jetzt geht er spazieren, er muß sich nicht giften, was scheren ihn Zahlen, Bilanzen und Schriften, er muß sich dazu nicht auf den Urlaub erst freuen, o selig, o selig, ein Jud jetzt zu sein“ (Dok. 293). An anderer Stelle erscheint wiederum ein faksimilierter, an den Wiener Moritz Leitersdorf und seine Frau gerichteter und „sofort vollstreckbar(er)“ Sicherheitsbescheid der Reichsfluchtsteuerstelle des Finanzamts Innere Stadt-Ost mit der Aufforderung, „sofort in Höhe von 19.900 R[eichs]M[ark] Sicherheit zu leisten“ (Dok. 149), der die systematische und staatlich gesteuerte Ausplünderung der aus dem Land getriebenen jüdischen Menschen anschaulich vergegenwärtigt.

 

Das erste, die Lage im Protektorat thematisierende Schriftstück stammt aus dem Tagebuch des Journalisten und Schriftstellers Camill Hoffmann und weiß von „viele(n) Selbstmorde(n) von Juden, viele(n) Verhaftunge(n)“ im Zuge des deutschen Einmarsches in Prag am 15. März 1939 zu berichten (Dok. 235), das letzte stellt am 28. September 1941 in gleichem Maß lapidar wie scharfsinnig fest: „Ein neuer Reichsprotektor, Heydrich, ist gekommen, Stellvertreter Himmlers. Der wird viel schärfer vorgehen. Das bedeutet, daß nicht alles so klappt, wie die Deutschen behaupten“ (Dok. 320).

 

Die Vielfalt der einzelnen Dokumente kann hier nur angerissen werden; ihre Aufbereitung erfolgt in übersichtlicher Weise. Zunächst listet ein Dokumentenverzeichnis (S. 65 – 81) die verfügbaren Quellentexte mit ihrer laufenden Nummer und einem den jeweiligen Inhalt in einem einzigen Satz zusammenfassenden Titelregest, aber ohne Nennung der belegten Seiten, auf, was wegen der durchgehend präsenten, Orientierung schaffenden Kopfzeilen auch nicht unbedingt erforderlich ist. Diese Regesten finden sich dann auch als Leitelemente am Ort der Schriftstücke, ergänzt um weitere Angaben, wie etwa zur Quellengattung, zum Verfasser, zum Entstehungsort, zur Entstehungszeit oder zu diversen amtlichen Vermerken. Der archivalische Nachweis ist dem Fußnotenapparat, der im Übrigen der Kommentierung der Schriftstücke dient, zugeordnet. Bisweilen könnten die Angaben etwas ausführlicher sein; so erscheint als Dok. 218 ein Faksimile eines der „jüdischen Rasse in Europa“ für den Fall eines weiteren Weltkriegs die „Vernichtung“ prophezeienden Hitler-Zitats (S. 532), dessen Verwendung als Wochenspruch der NSDAP vom 7. bis 13. September 1941 vermerkt wird. Nicht recherchiert und angegeben wurde hingegen, zu welchem Zeitpunkt, bei welcher Gelegenheit und in welcher Form die gegenständliche Aussage zustande gekommen und von Adolf Hitler geäußert worden ist.

 

Auf den ersten Blick reich gestaltet ist der Anhang, der den Nutzer mit zahlreichen Findhilfen, allen voran ein systematischer Dokumentenindex (dessen Stichwortfundus allerdings einen breiteren Ausbau vertragen hätte), verwöhnt. Die üblichen Register der Orte und Personen sind um ein Register der Institutionen, Firmen und Zeitschriften und eine Aufstellung der genannten Archive ergänzt, Literaturangaben finden sich aber nur in den Fußnoten der Einleitung. Neben dem Abkürzungsverzeichnis erläutert ein kleines Glossar grundlegende, oft dem Hebräischen entnommene Begriffe, und eine Landkarte veranschaulicht das Territorium des Protektorats in Abgrenzung zum Sudetenland und mit den Grenzen der Oberlandratsbezirke und den Kreisgrenzen nach der Gebietsreform von 1940.

 

Der Auswahledition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ (VEJ) wird wohl in Zukunft der Rang eines Standard-Quellenwerks für die Holocaustforschung zuwachsen, zumal diesem Forschungsfeld bislang keine vergleichbare Materialsammlung zur Verfügung steht. Ihr in der Aufteilung ihrer Bände zum Ausdruck kommendes, territoriales Ordnungsmuster kann vor allem die Ausarbeitung regionaler Detailstudien wesentlich unterstützen. Darüber hinaus gelingt es ihr durch die gelungene Verschränkung amtlicher und privater Hinterlassenschaften heterogener Provenienz sehr gut, das ambivalente Zeitkolorit in seinen zwischen alltäglicher Normalität, ideologisch fanatisiertem Extremismus und kalt-rationalem Verwaltungshandeln pendelnden Polen einzufangen und in seiner verstörenden Substanz für gegenwärtige und kommende Generationen auch nach dem Tod der letzten Zeitzeugen nachempfindbar zu konservieren.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic