Die Ingelheimer Haderbücher. Spätmittelalterliche
Gerichtsprotokolle, Band 1 Das Oberingelheimer Haderbuch 1476-1485, hg. v. Marzi,
Werner im Auftrag der Stiftung Ingelheimer Kulturbesitz, bearb. v. Grathoff,
Stefan (Transkription)/Schäfer, Regina (Übertragung). Stadt
Ingelheim am Rhein/Rheinhessische Druckwerkstätte, Alzey 2011. 89 S., 240 fol.
(ca. 1060 S.). Besprochen von Reinhard Schartl.
Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts sah man im Reich eine Notwendigkeit,
Gerichtsfälle und Gerichtsentscheidungen in Bücher einzutragen, um den Schöffen
die Erinnerung an ihre frühere Rechtsprechung zu erleichtern und den
betroffenen Parteien erforderlichenfalls das Urteil nachweisen zu können. Im
mittelrheinischen Gebiet hatte die Reichsstadt Frankfurt am Main bereits 1330 begonnen,
sowohl ein Gerichtsbuch und als auch davon getrennt ein Insatzbuch zu führen.
Die Gerichtsbücher der südhessischen Stadt Babenhausen reichen bis 1355 zurück
und sind heute noch ungewöhnlich vollständig vorhanden. Kaum erschlossen sind
die Gerichtsprotokolle des Burggerichts Friedberg in Hessen, die mit dem Jahr
1369 einsetzen. Dazu passt, dass der Ingelheimer Oberhof seit 1366 seine
Oberhofsprüche protokollierte. Neben dem so bedeutsamen Oberhof wurde die
örtliche Rechtsprechungstätigkeit des Ingelheimer Gerichts für die Orte
Ober-Ingelheim, Nieder-Ingelheim und Groß-Winternheim bislang kaum beachtet.
Die von dem örtlichen Gericht geführten Haderbücher aus der Zeit von 1387 bis
in das frühe 16. Jahrhundert fand Hugo Loersch 1870 in 33 Bänden vor, von denen
heute durch Kriegsverluste und aus anderen Gründen noch 19 vollständige Bände
und sechs Fragmente vorhanden sind. Insgesamt 165 Haderbucheinträge publizierte
bereits Anna Saalwächter in ihrer Dissertation „Das Recht des Ingelheimer
Oberhofs“ (1934). Das Institut für geschichtliche Landeskunde der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz hat nunmehr, gefördert von den Gesellschaftern des
Industrieunternehmens Boehringer Ingelheim, das Projekt aufgenommen, einige der
Haderbücher durch Edition der Wissenschaft leicht zugänglich zu machen. Das
Projekt beginnt mit dem Ober-Ingelheimer Haderbuch aus den Jahren 1476-1485,
das 476 beschriebene Seiten umfasst. Das Druckwerk erregt zunächst allerdings durch
seine Ausmaße von 29,5 cm x 27,6 cm x 6,5 cm und ein Gewicht von gut 5 kg das
Missfallen des Benutzers. Herausgeber und Verlag haben ersichtlich dem sich
ständig verschärfenden Aufbewahrungsproblem in den öffentlichen, aber auch in den
privaten Bibliotheken keine Bedeutung beigemessen. Allein durch Verkleinerung
der Seitenränder hätte sich das Blattformat von 814 cm² leicht um ein Viertel
verringern lassen. Ebenso wäre es verzichtbar gewesen, für jede Seite des
Kodex‘ eine eigene Druckseite zu verwenden, wodurch bei wenig beschriebenen
Seiten einiges an Druckfläche ungenutzt blieb. Der Band beginnt mit zwei
einleitenden Beiträgen. Dabei stellt der Herausgeber, Werner Marzi, Die
Ingelheimer Haderbücher – ein Forschungs- und Editionsprojekt das Schicksal der
Protokollbände dar und qualifiziert diese als „singuläre Dokumente der
mittelalterlichen deutschrechtlichen Laiengerichtsbarkeit“, weil sie im
Gegensatz zu Rechtsbüchern den konkreten Alltag des gesprochenen und
vollzogenen Rechts aufzeigen. Dass er sie als „singulär“ bezeichnet, kann den
unzutreffenden Eindruck erwecken, als gäbe es nichts Vergleichbares. Zu
verweisen ist jedoch auf die oben erwähnten, noch früher beginnenden und
gleichfalls über mehr als ein Jahrhundert reichenden Babenhausener und
burgfriedbergischen Gerichtsprotokolle. Es folgen Schwarz-Weiß-Abbildungen von
vier Haderbuchseiten, welche unterschiedliche Handschriften dokumentieren. Dem
schließt sich eine Erläuterung von Stefan Grathoff und Regina Schäfer zur
Transkription und Übertragung des Haderbuchs in die neuhochdeutsche
Schriftsprache an. Überzeugend ist die Annahme der Verfasser, dass die mehreren,
teils namentlich zu identifizierenden und nacheinander tätigen Schreiber die
Einträge in das Haderbuch nachträglich aufgrund von Notizen angefertigten.
Kritisch ist dagegen Ansicht Grathoffs und Schäfers zu sehen, dass das nach ihrer
Darstellung am häufigsten vorkommende Wort „erfolgen“ nicht durchgängig als „Prozess
gewinnen“, sondern häufig auch mit „verklagen“ zu übersetzen sei. Die Autoren
halten dabei einen abweichenden Sprachgebrauch von den Oberhofprotokollen für
möglich, was bereits im Ansatz nicht überzeugt. Gegen ihre Ansicht spricht
zudem, dass auch andere Gerichte der näheren Umgebung (Frankfurt, Butzbach,
Babenhausen) die Worte „Erfolgung“ und „erfolgen“ stets für das Obsiegen des
Klägers verwendeten. So leuchtet im herausgegebenen Haderbuch etwa die
Übertragung von „erfolgt“ im selben Eintrag (Seiten 10 und 10v) einmal als „Urteil“,
ein andermal als „Anspruch“ nicht ein, vielmehr lässt sich der Begriff hier und
nach stichprobenhafter Auswertung auch sonst stets zwanglos als „obsiegen“
verstehen. Sehr zu begrüßen ist demgegenüber das ausführliche Wortregister, das
auf mehr als 60 Seiten schätzungsweise 1.700 Hauptbegriffe enthält. Die Erschließung
des Haderbuchs wird dadurch entscheidend erleichtert. Die Übertragung des
frühneuhochdeutschen Textes auf den folgenden Seiten kann indes nicht ohne
Einwendungen bleiben. So befremdet es nicht nur den Juristen, wenn „zusprechen“
in den durchgehend bürgerlich-rechtlichen Sachen anstatt mit „klagen“ mit dem
im gegenwärtigen Recht strafprozessrechtlichen Begriff „anklagen“ übersetzt
wird. In anderen Fällen liegt eine inhaltlich bessere Übertragung nahe, so zum
Beispiel: „in leistunge gehen“ (Seiten 3, 129) mit „ins Einlager gehen“ anstatt
mit „Leistung erbringen“, „etlichen“ (Seite 21v) nicht mit „etlichem“, sondern
ergänzend mit „etlichen Zeugen“, „gut worden“ (Seite 97) mit „sich
verpflichten“ anstatt mit „bestimmen“, „heuptgeld“ (Seite 172v) mit Hauptforderung
anstatt mit „Klagesumme“. Insgesamt bietet die Edition aber eine gute Grundlage
nicht nur für eine sozial-, wirtschafts- oder sprachgeschichtliche Auswertung,
sondern ebenso für die Ergänzung rechtsgeschichtlicher Erkenntnisse.
Bad Nauheim Reinhard Schartl