Die Behandlung der Sozial- und Gesundheitspolitik in den thüringischen Landtagen seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Thüringer Landtag, red. v. Mittelsdorf, Harald (= Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen 30). Wartburg-Verlag, Weimar 2012. 517 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Der vorliegende Band vereinigt Einzeldarstellungen zur Behandlung der Sozial- und Gesundheitspolitik in den thüringischen Staaten (bis 1919 mit zehn Landtagen und neun Staatsregierungen) und im thüringischen Teil der preußischen Provinz Sachsen (Erfurter Gebiet). In der Weimarer Zeit umfasste das neu gebildete Land Thüringen noch nicht die preußischen Teile Thüringens, die erst 1945/1946 zu Thüringen kamen, das 1952 aufgelöst wurde und 1990 als Bundesland wieder entstand. Der Band wird eingeleitet durch eine Überblicksdarstellung von Barbara Anna Heinevetter: „Sozial- und Gesundheitspolitik in Thüringen seit über 100 Jahren und der Einfluss der gesellschaftspolitischen Entwicklung auf deren Gestaltung“ (S. 9-54). Nach einer Kennzeichnung des Territoriums des Gebiets Thüringen werden behandelt die Anfänge der Sozialpolitik in Thüringen (S. 19-25) und der Strukturwandel der Sozial- und Gesundheitspolitik bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (S. 25ff.). In diesem Zusammenhang geht es um die Arbeitsämter, die berufliche Bildung Jugendlicher, die Sozialversicherung, die Gesundheitsfürsorge und den Arbeitsschutz. Ein weiterer Abschnitt behandelt die „gravierenden Veränderungen“ in der Sozialpolitik von 1945-1952 (S. 39ff.). Der zweite Abschnitt für die Zeit von 1816 bis 1918 bringt acht Einzeldarstellungen zur Sozial- und Gesundheitspolitik in den kleinstaatlichen Landtagen Thüringens. Die Beiträge sind unterschiedlich strukturiert, entweder nach Sachgebieten oder stärker chronologisch orientiert. Stephen Schröder erörtert für Sachsen-Weimar-Eisenach folgende Bereiche: Medizinalordnungen, „Irrengesetzgebung“, Hebammenwesen sowie Heimatgesetzgebung und Armenfürsorge (S. 57-114). Der Beitrag Steffen Arndts widmet sich vornehmlich der Gesundheitsfürsorge und der Schulgesetzgebung im Herzogtum Gotha (S. 115-151). Das Heimatrecht sowie das Gesinderecht und die Gesundheitspolitik in Sachsen-Altenburg sind Gegenstand der Untersuchungen Doris Schillings (S. 152-184). Der Beitrag Alfred Ercks über Sachsen-Meiningen (S. 185-259) ist nach Zeitabschnitten gegliedert (begrenzte Reformbereitschaft zwischen 1830 und 1848; weiteres Auseinanderklaffen von Wirtschaftsentwicklung und Sozialpolitik unter konservativem Regiment [1850-1866], das Soziale im Prozess der inneren Reichsgründung [S. 209ff.], Bismarcksche Sozialgesetzgebung und Meininger Liberalismus; sozialpolitische Grundsatzdebatten bis 1903; Sozialpolitik im linksorientierten Herzogtum [1903-1914]; Überblick über die Gesundheitspolitik).

 

Auch der Beitrag Reyk Seelas über die Sozial- und Gesundheitspolitik in den beiden reußischen Landtagen ist chronologisch aufgebaut (S. 260-310). Thomas Wenzel beschränkt seine Studie über Schwarzburg-Rudolstadt auf die Regentschaft Günther Viktors (1890-1918; S. 311-317). Mathias Tullner beschäftigt sich für den preußischen Teil Thüringens mit den Arbeiten des sächsischen Provinzialverbands (S. 319-337). Schwerpunkte des Beitrags Heike Höflers über Aufbau und Krise der Sozialpolitik in der Zeit der Weimarer Republik (1920-1933; seit August 1932 gehörten dem Kabinett nur noch Nationalsozialisten an) sind die Wohlfahrtspflege, die Erwerbslosenfürsorge, das Ausführungsgesetz zum Jugendwohlfahrtsgesetz, die Notstandsarbeiten, die Altershilfe für Kleinrentner und der Arbeitsschutz. Reyk Seela bringt einen detaillierten Überblick über die Gesundheitspolitik im Spiegel des Thüringer Landtags (Überblick über die Parlamentsdokumente mit gesundheitspolitischem Bezug zwischen 1919-1933, S. 451f.). Mit einer Reform des Abtreibungsrechts (§§ 218, 219 StGB) befasste sich der Landtag 1924 und 1932 (S. 298). Der Beitrag Jürgen Kiefers über die Gesundheits- und Sozialpolitik in Thüringen von 1946 bis 1952 (seit Juli 1945 sowjetische Zone) enthält Abschnitte über den Landesverwaltungsaufbau im Gesundheits- und Sozialwesen und über die Gesundheits- und Sozialpolitik im Thüringer Landtag, der im Untersuchungszeitraum 51 gesundheits- und sozialpolitische Vorlagen verabschiedete (S. 453-484). Seit 1990 wurde die Thüringer Sozial- und Gesundheitspolitik auf- und umgebaut (Falk Oesterheld, S. 485-514). Neben den neuen Strukturen der Landesverwaltung und der demokratisch legitimierten Selbstverwaltung geht es um die Politikbereiche Sozial-, Jugend- und Familienpolitik sowie um Gesundheitspolitik (S. 485-514).

 

Mit der vorliegenden, auch für die Rechtsgeschichte relevanten Aufsatzsammlung wird ein im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte zunehmend wichtiger gewordener Politikbereich im Spiegel der Thüringer Landtage erschlossen. Hierbei haben sich die Autoren – wie bereits der Einleitungsbeitrag zeigt – nicht strikt auf die Landtagsarbeit beschränkt, sondern diese in die Gesamtentwicklung der Sozial- und Gesundheitspolitik eingeordnet. Auch die Bismarckschen Sozialgesetze und die Weimarer Sozialgesetzgebung kommen zur Sprache, zumal diese Gesetze in den Ländern durchzuführen waren. Bei der Vielzahl der behandelten Themenkreise und Personen wäre ein Register nützlich gewesen, zumal auch das Inhaltsverzeichnis die Untergliederungen der einzelnen Beiträge nicht aufführt. Es ist zu wünschen, dass der Band als Anregung dient für ähnliche Darstellungen über die Geschichte der Sozial- und Gesundheitspolitik in weiteren Bundesstaaten bzw. Ländern.

 

Kiel

Werner Schubert