Das Vermächtnis der Römer. Römisches Recht und Europa. Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Frühjahrssemester 2011, hg. im Auftrag des Collegium generale v. Fargnoli, Iole/Rebenich, Stefan (= Berner Universitätsschriften 57). Haupt, Bern 2012. 382 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.

 

Der Band ist, wie schon im Untertitel angedeutet, aus einer Vorlesungsreihe der Universität Bern hervorgegangen, die das Ziel verfolgt, Mitgliedern aller Fakultäten und einer breiteren Öffentlichkeit Beispiele der wissenschaftlichen Arbeit der Universität zu vermitteln (S. 4). Das Buch umfasst elf, auf den Vorträgen beruhende Beiträge, denen eine Einleitung der beiden Herausgeber vorangestellt ist (S. 7ff.). Alle Aufsätze enthalten umfangreiche Literaturverzeichnisse. Abgeschlossen wird der Band durch biographische Angaben zu den Autoren und Autorinnen sowie den Herausgebern (S. 381ff.).

 

Die Beiträge lassen sich in zwei Gruppen gliedern. Die ersten sechs Aufsätze stammen von Rechtshistorikern und einem Historiker; sie befassen sich mit dem römischen Recht und seinem Fortleben in Mittelalter und Neuzeit. Die zweite Gruppe enthält von Historikern, Theologen, Sprachwissenschaftlern und Vertretern anderer Disziplinen verfasste Beiträge, die unterschiedliche Aspekte des römischen Rechts im Zusammenhang mit anderen Disziplinen behandeln.

 

Um mit den Beiträgen der ersten Gruppe zu beginnen: Pascal Pichonnaz widmet sich in dem Aufsatz: „Die Schweiz und das Römische Recht. Ein Bild in groben Zügen“ (S. 21ff.) nach einer knappen Darstellung der Entwicklung des römischen Rechts dem „Weiterleben des Römischen Rechts in der Schweiz, während des Mittelalters und in der Neuzeit“ (S. 26) und geht auf die römisch-rechtlichen Grundlagen der Kodifikation des schweizerischen Obligationenrechts ein. Sodann plädiert er für eine Wiederbelebung des römischen Rechts im Rahmen der Entwicklung eines europäischen Vertragsrechts, nicht durch Übertragung der im antiken Recht gefundenen Lösungen in die Gegenwart, sondern um „die richtigen Fragen zu stellen, die verschiedenen europäischen Lösungen zu dekonstruieren, um die dahinter stehenden Werte zu identifizieren“ und eine „durchdachte Lösung“ anbieten zu können (S. 40) – „über das Römische Recht hinaus, aber dank dem Römischen Recht“ (S. 41), wie Pichonnaz in Anlehnung an Rudolf von Ihering abschließend formuliert.

 

Reinhard Zimmermann, ein Protagonist der Bemühungen um eine Renaissance des römischen Rechts in Europa, ist mit einem umfangreichen Beitrag unter dem Titel: „Römisches Recht und europäische Kultur“ (S. 47ff.) vertreten. Nach Überlegungen zum Begriff der europäischen Kultur und zum Verhältnis zwischen Recht und Kultur stellt er die römisch-rechtliche Basis der modernen Zivilrechtskodifikationen dar, untersucht anschließend die noch heute „prägenden Merkmale des antiken Römischen Rechts“ (S. 61ff.) und widmet sich der Überlieferung des römischen Rechts im ius commune. Zimmermanns Darlegungen münden in die Frage: „Wie europäisch ist die ‚europäische’ Rechtstradition?“ (S. 73ff.). Sein Fazit lautet: „Die europäische Rechtstradition erhielt ihre spezifische Prägung durch das ius commune, das wiederum ganz wesentlich auf dem Römischen Recht beruhte.“ (S. 78) Ebenso wie Pichonnaz und Zimmermann plädiert auch Francesco Milazzo in seinem Aufsatz: „Der europäische Jurist. Römisches Recht und drittes Millenium“ (S. 95 ff.) für ein neues europäisches ius commune.

 

Der Beitrag Christoph Krampes: „Römisches Recht auf hoher See. Die Kunst des Guten und Gerechten“ (S. 111ff.) ist einem konkreten Problembereich gewidmet, dem Seehandel und den damit verbundenen juristischen Fragen, wie dem Seedarlehen, dem Seewurf und der Havarie. Dargelegt werden nicht allein die vom griechischen Recht stark beeinflussten Regelungen des römischen Rechts, sondern auch moderne Bestimmungen etwa des deutschen und des französischen Rechts, die ihrerseits vom römischen Recht beeinflusst sind.

 

Iole Fargnoli behandelt ein auffallend modernes Thema: „Umweltschutz und Römisches Recht“ (S. 151 ff.), wobei sie sich insbesondere dem Schutz gegen Wasserverschmutzung, unzulässige Abwasserbeseitigung und die Verwendung von Blei in Wasserleitungen widmet. Abschließend stellt sie fest, das römische Recht habe, anders als das moderne Recht, keinen öffentlich-rechtlichen Schutz der Umwelt gekannt, wohl aber einzelne privatrechtliche Regelungen zum Schutz vor schädlichen Umwelteinflüssen (S. 170f.). Peter Heather geht in dem Aufsatz: “Roman law in the post-roman West. A case study in the Burgundian kingdom” (S. 177ff.) auf ein sehr spezielles Thema ein, das Weiterleben römischen Rechts nach dem Untergang des römischen Reichs in Burgund, wobei er Urkunden vom Ende des 5. und dem Beginn des 6. Jahrhunderts auswertet.

 

Die zweite Gruppe von Aufsätzen, in denen Vertreter unterschiedlicher Disziplinen römisch-rechtliche Aspekte ihres eigenen Faches behandelnen, beginnt mit einem Beitrag Uwe Baumanns: „Rezeption und literarische Repräsentation in der englischen Kultur und Literatur“ (S. 233ff.). Entgegen einer verbreiteten Auffassung, wonach sich das common law eigenständig, unabhängig vom römischen Recht,  herausgebildet hat, stellt der Autor fest, dass zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen englischem und römischem Recht bestehen. Baumann zeigt, dass in Dramen der englischen Renaissance und des Klassizismus, ferner in der Selbstdarstellung der englischen Könige und schließlich sogar in modernen Kriminalromanen häufig auf das antike Rom und auch auf das römische Recht Bezug genommen wird. Abschließend äußert Baumann den Wunsch, dass die Renaissancedramen, zum Beispiel die Werke Shakespeares, noch genauer unter diesem Gesichtspunkt analysiert werden sollten.

 

Der Historiker Wilfried Nippel schreibt über „Römisches Recht und Freiheit“ (S. 275ff.). Er untersucht, welche Vorstellungen die Römer in der Republik und frühen Kaiserzeit mit libertas verbanden, und welche Strukturen und Verfahren das römische Recht bereit hielt, um (modern gesprochen) Freiheitsrechte zu garantieren. Sein Fazit lautet, dass sich die rechtsstaatliche Tradition Europas ohne das römische Recht und seine Rezeption nicht verstehen lasse.

 

Die Theologin Heike Omerzu untersucht den „Prozess Jesu im Spiegel des Römischen Rechts“ (S. 303ff.). Sie gelangt zu dem Ergebnis, der Prozess gegen Jesus und seine Kreuzigung könnten nicht erklärt werden ohne die entscheidende Verantwortung des römischen Statthalters Pontius Pilatus; ob die Hinrichtung Jesu im Einklang mit der jüdischen Oberschicht geschah, sei juristisch irrelevant (S. 316). Der Beitrag des Theologen Peter-Ben Smit lautet: „Die Christen im Römischen Reich. Römisches Recht und Neues Testament am Beispiel des römischen Adoptionsrechtes und neutestamentlicher Christologie“ (S. 321ff.). Smit untersucht eine Stelle aus dem Römerbrief des Apostels Paulus (1,3-4), wonach Jesus bei seiner Auferstehung als Sohn Gottes eingesetzt wurde. Der Autor vertritt die These, Paulus habe die Beziehung zwischen Gottvater und Jesus entsprechend dem römischen Adoptionsrecht verstanden. Ferner geht Smit auf den Adoptianismus ein, eine später als häretisch verurteilte, theologische Richtung des 2. bis 4. Jahrhunderts, in der die Beziehung zwischen Gottvater und Jesus ausdrücklich nach dem Muster einer Adoption interpretiert wurde.

 

Der Beitrag des Juristen Antonio Padoa-Schioppa lautet: „Towards a globalization of law? Developments in Europe from the medieval to the contemporary age” (S. 345ff.). Der Autor gibt einen Überblick über die europäische Rechtsgeschichte von der römischen Antike bis in die Gegenwart, wobei er die globalen Auswirkungen der Entwicklung des europäischen Rechts herausarbeitet.

 

Abschließend einige Anmerkungen, die sich auf die von Rechtshistorikern verfassten Aufsätze beziehen: Gemeinsam ist ihnen, dass sie das römische und gemeine Recht nicht rein historisch behandeln, sondern nach seiner Bedeutung für die Gegenwart und die Zukunft fragen. Betont wird, dass das römische und gemeine Recht bei der Interpretation des geltenden Zivilrechts sowie bei der Ausarbeitung eines europäischen Vertragsrechts herangezogen werden sollten. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie die Kontinuität des römischen Rechts von der Antike bis in die Gegenwart herausarbeiten. Hier setzen die folgenden Überlegungen an: So zutreffend es ist, dass das in den europäischen Staaten und darüber hinaus geltende Zivilrecht ohne seine römisch-rechtliche Grundlage nicht verständlich ist, so wird damit doch nur die halbe historische Wahrheit ausgesprochen. Die Rechtsgeschichte ist nicht allein durch Kontinuitäten gekennzeichnet, sondern auch durch Zäsuren. Als Justinian im Jahre 533 n.Chr. oströmischen Rechtsprofessoren und Anwälten den Auftrag erteilte, eine Kompilation von Exzerpten aus den damals noch zahlreich überlieferten Schriften der klassischen Juristen zu erstellen, die Digesten (Pandekten), ordnete er auch an, dass die nicht in die Digesten aufgenommenen Teile der Juristenschriften künftig keine rechtliche Bedeutung mehr haben sollten. Dadurch wurde der allergrößte Teil der Juristenschriften obsolet. Es ist zwar verständlich, dass die Digesten später vor allem unter dem Gesichtspunkt der Konservierung der klassischen Juristenschriften gewürdigt wurden. Zugleich muss aber betont werden, dass die Kodifikation einen großen Verlust zur Folge hatte, weil die Juristenschriften (soweit sie nicht in die Digesten eingegangen waren) nahezu ausnahmslos verloren gegangen sind. Es drängt sich die Vermutung auf, dass jede Kodifikation mit dem Zweck verbunden ist, eine rechtliche Tradition zu sichten, für unbrauchbar Erachtetes auszuscheiden und nur zu übernehmen, was für die Zukunft als nützlich erscheint, kurz: eine rechtshistorische Epoche abzuschließen und einen Neuanfang zu machen. Dies dürfte auch, um ein modernes Beispiel anzuführen, für das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch gelten. So zutreffend die Feststellung ist, dass dieses Gesetzbuch in weiten Teilen gemein-rechtliche Grundlagen hat, so richtig ist auch, dass die Tradition des gemeinen Rechts damit beendet werden sollte. Seit dem In-Kraft-Treten des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1. 1. 1900) sind die Romanistik und die Zivilrechtswissenschaft getrennte Wege gegangen. Diese Trennung beruht seitens der Zivilrechtswissenschaft nicht auf kurzsichtiger Vernachlässigung der historischen Grundlagen des geltenden Rechts, sondern bildet eine Konsequenz, die sich aus dem historischen Zweck des Gesetzbuchs ergibt, einen Neuanfang zu unternehmen.

 

Dies hat Auswirkungen im Hinblick auf die aktuelle Bedeutung des römischen und gemeinen Rechts. Pichonnaz berichtet von einem Entscheid des schweizerischen Bundesgerichts (2002) über die Auslegung des Art. 185 des Obligationenrechts, in dem das Gericht eine historische Analyse vorgenommen und die Grenzen des Prinzips des periculum emptoris erörtert hat (S. 39 f.). Das Gericht zitiere in dem Entscheid nicht nur Justinian, sondern auch Juristen des ius commune, wie Cuiacius und Pothier, und dies, wie Pichonnaz feststellt, „nicht um die römischrechtliche Lösung auf die gegenwärtigen Probleme zu übertragen, aber um die Hintergründe, die Struktur der Lösung besser zu erklären“ (S. 39). In die gleiche Richtung weist eine von Milazzo zitierte Äußerung Emil Seckels von 1924, wonach „geschichtliche Forschung für den Juristen im Dienste der besseren Erkenntnis des geltenden Rechts steht“ (S. 105). Es ist selbstverständlich legitim, das geltende Recht historisch zu erforschen. Fragwürdig ist jedoch die Forderung, die Ergebnisse dieser Forschung in der Zivilrechtswissenschaft und der Praxis stärker als bisher zu berücksichtigen. Denn der Zweck einer Kodifikation besteht gerade darin, die Tradition hinter sich zu lassen und einen historischen Neuanfang zu machen. Vielleicht entspricht es dem historischen Zweck des Bürgerlichen Gesetzbuchs besser, die gemeinrechtliche Tradition bei der Interpretation außer Acht zu lassen und die einzelnen Bestimmungen allein im Rahmen dieses Gesetzbuchs zu interpretieren. Anders sind die rechtspolitischen Bemühungen einzuschätzen, die gemeinrechtliche Tradition bei der Schaffung eines europäischen Zivilrechts zu berücksichtigen. Den europäischen Staaten, steht es frei, die Tradition in ihre Überlegungen einzubeziehen.

 

Die in dem Band zusammengestellten Aufsätze sind gut geeignet, eine breite Öffentlichkeit über die Bedeutung des römischen Rechts in verschiedenen Disziplinen zu informieren. Besonders anregend sind sie für Juristen, die an der Frage einer Wiederbelebung des römischen Rechts, insbesondere bei der Ausarbeitung eines europäischen Zivilrechts, interessiert sind.

 

Heidelberg                                                                              Hans-Michael Empell