Czitrich-Stahl, Holger, Arthur Stadthagen - Anwalt der Armen und Rechtslehrer der Arbeiterbewegung. Biographische Annäherungen an einen beinahe vergessenen sozialdemokratischen Juristen. Lang, Frankfurt am Main 2011. 679 S., zahlr. Tab. Besprochen von Hans-Peter Benöhr.

 

Holger Czitrich-Stahl füllt mit dieser gründlichen Biographie eine Lücke in der Rechtsgeschichte. Arthur Sadthagen (Berlin 1857 bis 1917) war einer der hervorragendsten Teilnehmer an den Reichstagsberatungen zum BGB. Er hat das erste Handbuch des „Arbeiterrechts“ verfasst, ein Jahrzehnt vor Sinzheimer, dem Vater des modernen Arbeitsrechts. Stadthagen war acht Jahre lang als Rechtsanwalt in Berlin tätig, fehlt aber in dem Standardwerk von Krach über jüdische Rechtsanwälte. Er war sozialdemokratischer Stadtverordneter in Berlin (seit 1889) und Abgeordneter im Reichstag (seit 1890).

 

Über sein Privatleben ist wenig bekannt. Er blieb unverheiratet. Charakteristisch dürften das aufbrausende, verletzende Wesen und die Schärfe seiner Reden und Schriften selbst gegenüber sozialdemokratischen Genossen, die er gelegentlich als „Parteilümmel“ und „Parteischädling“ beschimpfte, sein. Der Biograph geht zurück bis zu den Großeltern, berichtet über den gelehrten Vater: Rabbiner, Dr. phil., Privatgelehrter und Sprachlehrer, und über die Mutter, mehrere Geschwister und deren Nachkommen. Arthur Stadthagens Bruder Julius Ludwig wurde ebenfalls Rechtsanwalt, sein Zwillingsbruder Emil emigrierte nach Nicaragua.

 

Von diesem „familiären Hintergrund“ aus begleitet Czitrich-Stahl den „Bildungsbürgersohn auf dem Weg zum Sozialismus“ und zu seiner Tätigkeit als „Anwalt der Armen und Opfer der preußischen Klassenjustiz“. Man hört aber nichts über Studium (1876 bis 1879), Referendariat und Examina. Er soll pro Jahr im Durchschnitt 120, insgesamt mehr als 1000 Prozesse geführt haben. Alsbald war er in ein Netz von Straf- und Ehrengerichtsverfahren insbesondere wegen Beleidigung der Staatsanwaltschaft, der Strafkammer und des Landgerichtspräsidenten und wegen Verletzung der Berufspflichten verstrickt, die zum Teil mit Geldstrafen und Gefängnisstrafen endeten. 1892 wird Stadthagen wegen „Mitwirkung beim Zustandekommen eines betrügerischen Reverses und zweitens wegen grober Gebührenüberschreitung“ aus der Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen. Die tatsächlichen und rechtlichen Einzelheiten lassen sich anscheinend nicht mehr erhellen.

 

Auch nachdem er 1910 aus dem Judentum ausgetreten war, blieb er das Ziel antisemitischer Attacken. 1910 berichtete die „Staatsbürgerzeitung“ über eine sozialdemokratische Veranstaltung unter dem Motto „Junkerregierung, Reichstag und Volk“, in der er durch „Rufe wie ‚Herunter mit dem frechen Juden’, ‚Raus nach Palästina’“ bedroht wurde.  Die den Freikonservativen nahestehende „Post“ schilderte 1914 den Genossen „mit dem Hetiterkopf und dem Assyrerbart“ und rechnete 1917 ihren Lesern vor, dass von den fünf USPD-Delegierten auf den Stockholmer Friedenskonferenzen vier Juden und einer deutsch-tschechisch (Kautsky) sei. „Judenbande“ und „Judenjungen“ hatten sogar sozialdemokratische Abgeordnete im Reichstag gerufen (trotz Karl Marx und Ferdinand Lassalle), als Stadthagen und andere 1916 den Notetat ablehnten.

 

Czitrich-Stahl liefert zusammen mit der Biographie ein großes Stück Justiz- und Verwaltungsgeschichte. Man erfährt viel über Vereins- und Versammlungsverbote, über Polizeipraxis, Polizeirecht und Polizeiorganisation, viel über die Organisation und das Funktionieren innerhalb der SPD und anderer Parteien, über Wahlkämpfe, die Tätigkeit eines Reichstagsabgeordneten, man hört auch einiges über Verfahren vor Strafgerichten und vor dem Ehrengericht der Rechtsanwälte.

 

1889 hält die auf Grund des Sozialistengesetzes geführte Überwachungsakte fest: „RA Stadthagen befürwortet jetzt öffentlich die Forderungen der Sozialdemokratie“. Daraufhin will die Neue Preußische Zeitung eine Diskussion „über das enge Zusammenwirken des Judentums mit der Sozialdemokratie“  und über die Vereinbarkeit der „Stellung eines offenen Anhängers der Sozialdemokratie mit derjenigen eines Rechtsanwalts“ eröffnen.

 

1889 wird Stadthagen in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt. Das Dreiklassenwahlrecht verhindert seine Wahl in das Abgeordnetenhaus. 1890 erringt er das Reichstagsmandat für den Wahlkreis Niederbarnim am Rande Berlins, und verteidigt das Mandat bis zu seinem Tode 1917. Stadthagen nahm zu allem Stellung, was den Reichstag und besonders die Sozialdemokratie oder die Arbeiter beschäftigte, unter anderem zum Reichshaushalt, zur Sozialversicherung, zur Gewerbeordnung, zum Vereinsgesetz mit der Aufhebung des Organisationsverbots für Frauen, zu Gerichtsverfahren und Gerichtsverfassung. Auch in den Kommissionen des Reichstags wirkte er gewissenhaft mit. Seine Reden, getreulich referiert von Czitrich-Stahl, zeichnen sich durch die Fülle tasächlicher Alltagsfälle aus.Er galt als „redegewandter Abgeordneter, der zu polarisieren und zu provozieren wusste“.

 

Bis 1897 der einzige Jurist in der Fraktion, wird seine Mitarbeit am Bürgerlichen Gesetzbuch im Plenum wie in der Reichstagskommission zum Teil aus dem Blickwinkel des Niederbarnimer Kreisblatts gesehen – eine für die Frage der Implementierung des Rechts durchaus nützliche Perspektive. Die Berichte und Kommentare im „Vorwärts“ (Thomas Vormbaum, Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2. Aufl., 1997), die auch auf Stadthagen zurückgehen dürften, werden hingegen von Czitrich-Stahl nicht zitiert. Heutzutage wären seine 94 Änderungsanträge zur zweiten Lesung des BGB (Reichstagsverhandlungen 9. LP Anlagen Nr. 465 und 471) darauf zu prüfen, wieweit sie im Laufe der späteren Zeit Gesetz geworden sind. Stadthagen hatte innerhalb der SPD-Fraktion für die Annahme des BGB geworben, später aber seine Meinung geändert. Er ergriff auch wieder das Wort gegen die erste Novellierung des BGB, betreffend die Tierhalterhaftung, § 833. 1904 brachte er einen „Führer durch das Bürgerliche Gesetzbuch“, „mit Beispielen und Formularen“, heraus.

 

Sein „Arbeiterrecht“,  schon 1895 mit Beispielen und Formularen, diente tatsächlich auch den Unternehmern als wertvolle Information.  Dennoch wird Stadthagen in den heutigen Abrissen der Arbeitsrechtsgeschichte „beinahe vergessen“.

 

Nach einem Polizeibericht von 1907 verdiente Stadthagen etwa 6300 Mark jährlich als Redakteur des „Vorwärts“. Er war Chefredakteur der „Fackel“, des Agitationsblatts für die Provinz Brandenburg, verfasste Artikel für die „Neue Zeit“ und lieferte Beiträge für ein „Volkslexikon“. Czitrich-Stahl gibt dankenswerterweise eine Aufstellung der „Schriften Arthur Stadthagens“, aber ohne die zahllosen Agitationsschriften (S. 666 bis 668). Daneben unterrichtete Stadthagen an der Parteischule.

 

Die Aktivitäten in Wahlversammlungen, Parteiversammlungen, Parteikonferenzen und Parteitagen nahmen einen großen Teil seiner Energie und Zeit in Anspruch, wie  Czitrich-Stahl, oft mit genauer Angabe von Ort und Zeit, referiert, z. B. terminierten „die Niederbarnimer Sozialdemokraten ihre Kreisgeneralversammlung am 1. August 1909, für die das Café ‚Bellevue’ in der Hauptstraße 2 am Rummelsberg angemietet werden konnte. Als Beginn wurde 12 Uhr mittags festgesetzt“, usw. Manchmal berichtet der Biograph im Stile eines Tagebuchs, zum Beispiel: Am 6. Mai 1907 war er bei einer Veranstaltung Rosa Luxemburgs und geleitete sie anschließend zum Bahnhof, vier Tage später nahm er an der Generalversammlung des Kreiswahlvereins Niederbarnim teil, am 11. April gab er Ignatz Auer das letzte Geleit.

 

Trotz seinem bewunderswert rastlosen Einsatz, seinen Wahlerfolgen und seinen vielen Ämtern gehörte Stadthagen nicht zur Spitze der Partei.

 

Die Biographie ist verwoben mit der Geschichte der Partei und der Geschichte Deutschlands, dabei konnte auch der „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie“ nicht unerwähnt bleiben. Die sich schon längst abzeichnende Spaltung der Partei und die Annäherung der Fraktionsmehrheit an die bürgerlichen Richtungen, verstärkt seit der Bewilligung der Mittel zur Heeresvermehrung 1913, werden von Czitrich-Stahl detailreich nachgzeichnet.

 

Die Kriegsgegner hatten sich anfangs der Fraktionsdisziplin gefügt und für die Bewilligung der Mittel gestimmt. Als sie 1916 dagegen votierten, wurden sie von der Mehrheit aus der Fraktion ausgeschlossen und gründeten daraufhin die „Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“, kurz darauf die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“, für die wiederum Stadthagen häufig im Reichstag das Wort ergriff und für die er auch in den „Verfassungsausschuss“ des Reichstags eintrat. Am 11. Oktober 1917 forderte Stadthagen die Einrichtung eines Reichsarbeitsamtes als eigenständiger Behörde und prangerte die politische Justiz an. Das war seine letzte Reichstagsrede. Am 5. Dezember 1917 verstarb er in Berlin.

 

Ein Nachlass Sadthagens ist nicht aufzufinden. Glücklicherweise besitzt das Landesarchiv Berlin einen ansehnlichen Bestand an Akten betreffend die Sozialdemokratie und  - beginnend 1887 -  „betreffend Reichstagsabgeordneten und Rechtsanwalt Arthur Stadthagen“, sorgfältig ausgewertet von Czitrich-Stahl.

 

Holger Czitrich-Stahl hat sich nach dem Studium der Geschichte und der Sozialwissenschaften mehrfach mit dem Konservatismus in der Bundesrepublik auseinandergesetzt. Die Arbeit über Stadthagen stellt seine Dissertation bei der Fernuniversität Hagen dar. Sein Verdienst liegt in der Auswertung der Quellen und in der Darstellung der politischen Verhältnisse, auf juristische Literatur hat er kaum zurückgegriffen (Verzeichnisse S. 661 bis 679). Ein Register hätte die Benutzung seines Buches erleichtert.

 

Mussten wir uns bisher mit den wenigen Zeilen von Huber (Verfassungsgeschichte Bd. 4, S. 111) und Rosemarie Jahnel (bei W. Schubert, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, S. 123) begnügen, so steht uns jetzt dankenswerterweise eine sehr ausführliche Biographie über Arthur Sadthagen, den Parteipolitiker, der auch Jurist war, zur Verfügung.

 

Berlin                                                  Hans-Peter Benöhr