Cramer, John, Belsen Trial 1945. Der Lüneburger Prozess gegen Wachpersonal der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen (= Bergen-Belsen – Dokumente und Forschungen, hg. v. d. Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Bd. 1). Wallstein, Göttingen 2011. 427 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Bemühen um die wissenschaftliche Aufarbeitung der Vorgänge rund um die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager leisten die Gedenkstätten neben der adäquaten Präsentation vor allem in der Dokumentation Grundlagenarbeit vor Ort. Die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und die Gedenkstätte Bergen-Belsen haben Forschungsergebnisse zunächst in den „Bergen-Belsen Schriften“ publiziert und führen diese Arbeit nun in Form der „Bergen-Belsen – Berichte und Zeugnisse“ sowie zuletzt der „Bergen-Belsen – Dokumente und Forschungen“ fort, als deren erster Band die hier zu besprechende Studie erschienen ist. Es handelt sich um die Druckfassung einer 2008 von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen approbierten historischen Dissertation, die der Verfasser unter Betreuung Anselm Doering-Manteuffels erstellt hat. Ziel sei, „eine Gesamtdarstellung des Lüneburger Belsen-Prozesses“, die bislang ausstehe, zu liefern, damit „einen Abschnitt der ‚juristischen Zeitgeschichte‘ näher zu beleuchten […] und […] einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zu leisten“ (S. 19). Daraus ergibt sich konzeptionell eine Trias von Vorgeschichte des Tribunals, Analyse der zweimonatigen Hauptverhandlung und ihrer Protagonisten sowie einer Betrachtung der unmittelbaren und weiteren Konsequenzen dieses Verfahrens.

 

Im Zuge der Lektüre erweist sich rasch, dass der Verfasser sich seines Themas mit Akribie angenommen hat. Zunächst zeichnet eine Einleitung die Struktur des Lagerkomplexes Bergen-Belsen nach, resümiert den Stand der Forschung, erläutert Aufbau und Fragestellungen der Arbeit und benennt die Quellen. Im ersten Abschnitt, der Vorgeschichte des Prozesses, werden unter anderem wesentliche Aussagen zu den rechtlichen Grundlagen des Verfahrens getroffen. Nachdem auf angelsächsischer Seite der ursprünglich erwogene Plan einer summarischen standrechtlichen Hinrichtung nationalsozialistischer Kriegsverbrecher zugunsten einer rechtsstaatlichen Lösung verworfen worden war, entschlossen sich die Briten, das traditionelle Rückwirkungsverbot zu beachten, keine neuen Rechtsinstrumente zu entwickeln und das bestehende internationale Recht unverändert zur Anwendung zu bringen. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 und die Genfer Konvention von 1929 waren auch von Deutschland unterzeichnet und nicht widerrufen worden, womit eine Bestrafung von Kriegsverbrechen, unter die nach gängiger Auslegung Gewalttaten gegen Leib, Leben und Eigentum einer Person subsumiert wurden, auch wenn sie durch Unterlassung begangen wurden, möglich war. Hinsichtlich der Frage, wer von den Alliierten für die Aburteilung welcher Straftäter zuständig sein sollte, einigte man sich auf eine den Besatzungszonen folgende, territoriale Zuordnung. „Um zu verhindern, dass die Angeklagten nach Großbritannien geschafft oder aber die Richter in alle Welt geschickt werden mussten“, fiel im November 1944 in England die Entscheidung für den Gerichtstyp des Militärtribunals, auch, weil „die Armee sowohl über juristisch geschultes Personal als auch einen entsprechenden Verwaltungsapparat verfügte und mit dem britischen Militärstrafgesetzbuch ein geeigneter Codex zur Aburteilung von Kriegsverbrechern vorlag“ (S. 32f.). Am 14. Juli 1945 erließ die britische Krone im Auftrag der Regierung die Royal Warrant mit den grundlegenden Bestimmungen für Kriegsverbrecherprozesse vor britischen Militärgerichten, die Rechtsgrundlage für über 500 zwischen 1945 und 1949 durchgeführte Verfahren. Die mündlichen Verhandlungen hatten demnach öffentlich stattzufinden, die Anwesenheit der Angeklagten war während der gesamten Dauer der Verhandlung erforderlich und ihnen kamen umfassende Rechte zu; so oblag etwa die Beweislast generell der Staatsanwaltschaft.

 

Nach der Klärung verschiedener institutioneller Fragen traf, erst zwei Wochen nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen am 15. April 1945, ein - wie der Verfasser angibt, „hoffnungslos unterbesetzt(es)“ (S. 49) - „No. I War Crimes Investigation Team“ (WCIT) vor Ort ein, um die notwendigen Ermittlungen in die Wege zu leiten. Trotz zahlreicher, den schwierigen Umständen geschuldeter Pannen konnte am 17. September 1945 der 1. Belsen-Prozess in Lüneburg gegen den letzten Lagerkommandanten von Bergen-Belsen, SS-Hauptsturmführer Josef Kramer, und 43 Angehörige des Lagerpersonals (darunter elf Häftlingsfunktionäre) wegen in Bergen-Belsen und in Auschwitz begangener Verbrechen eröffnet und bis 17. November zum Abschluss gebracht werden. Elf Angeklagte wurden zum Tode verurteilt und am 13. Dezember im Zuchthaus Hameln durch den Strang gerichtet, neunzehn erhielten Freiheitsstrafen, vierzehn wurden freigesprochen. Der Verfasser leuchtet die Hauptverhandlung vorbildlich in allen relevanten Bereichen aus, beschäftigt sich detailliert mit den Angeklagten und der Anklage, mit Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Richter und Judge Advocate, widmet sich den Zeugen und weiteren Beweismitteln, dem Selbstbild und den Verteidigungsstrategien der Angeklagten sowie den abschließenden Urteilen.

 

Im dritten und letzten Teil der Studie erforscht John Cramer das Nachleben des Tribunals. Sachlich und dennoch makaber mutet die „fast leidenschaftslose Genauigkeit der beteiligten britischen Institutionen“ (S. 265) in ihrem Bestreben an, eine vorbildliche, reibungslose Exekution in Hameln zu gewährleisten, wofür man den wohl berühmtesten britischen Zivilhenker, Albert Pierrepoint, eigens aus England einflog. Er machte seine Sache – ganz im Gegensatz zum amerikanischen Militärscharfrichter beim Nürnberger Tribunal, John C. Woods, dessen Dilettantismus den Delinquenten einen langen Todeskampf bescherte - so gut, dass er in den Folgejahren diese Reise jeweils für über 180 weitere Hinrichtungen antreten durfte. Ausführlich kommt dann die Rezeption und Verzerrung des Prozesses im Spiegel der Presse zur Sprache, dessen Resonanz bei ehemaligen Häftlingen der Konzentrationslager sowie in Deutschland, Großbritannien, der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und Polen. Im zweiten Belsen-Prozess, eröffnet am 16. Mai 1946 in Celle, wurden nach sieben Verhandlungstagen drei von acht Angeklagten zum Tode verurteilt und am 11. Oktober in Hameln hingerichtet, die übrigen mit Freiheitsstrafen bis zu 20 Jahren belegt, aber alle bis 1954 wieder auf freien Fuß gesetzt. Ein dritter Belsen-Prozess gegen den ehemaligen SS-Hauptsturmführer und Führer der Wachmannschaften, Ernst Julius Curt Meyer, zwischen dem 14. und 16. April 1948 in Hamburg endete zwar mit einem Schuldspruch und der Verurteilung zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe, seine Entlassung erfolgte aber ebenfalls bereits Ende 1954.

 

Da weitere britische Verfahren gegen führendes Personal aus anderen Konzentrationslagern anhängig waren, wurde „die Bestrafung von bis dahin unbeachteten oder gar unbekannten Tätern aus Bergen-Belsen – ein Unterfangen, das ausschließlich Arbeit, aber keine öffentliche Aufmerksamkeit, geschweige denn Lob verhieß - […] mehr und mehr zum nachrangigen und schließlich unerwünschten Projekt“ (S. 384). Mit dem vom Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg mittlerweile hinsichtlich der Mitgliedschaft in der SS definierten Organisationsverbrechen ergab sich die günstige Gelegenheit, solche Verfahren deutschen Spruchkammern zu übertragen. Deren Bilanz ist allerdings ernüchternd: „Der 1949 vor dem Landgericht Gera abgehaltene Prozess gegen Unterscharführer Gerhard Gläser wegen Verbrechen, die dieser zwischen 1943 und 1945 als Mitglied der Fahrbereitschaft des KZ Bergen-Belsen begangen haben sollte, blieb das einzige von der deutschen Justiz – sowohl seitens der Bundesrepublik als auch der Deutschen Demokratischen Republik – durchgeführte Gerichtsverfahren, das in diesem Lager verübte Straftaten zum Gegenstand hatte. Die wenigen Ermittlungsverfahren, die von der zuständigen Staatsanwaltschaft Lüneburg eingeleitet wurden, endeten früher oder später mit Einstellung“ (S. 388).

 

Eine rechtsgeschichtliche Einordnung des Lüneburger Prozesses muss zwiespältig ausfallen. Der Verfasser lobt insgesamt die Leistung der Briten, trotz der widrigen Umstände und großen eigenen Probleme, mit denen das Empire in dieser Phase zu kämpfen hatte, unter Überwindung erheblicher logistischer und organisatorischer Widrigkeiten diesen Großprozess mit „vorbildlicher Fairness“ (Eberhard Kolb) durchgeführt und damit erstmalig die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern begangenen Verbrechen öffentlich ausführlich zur Sprache gebracht zu haben. Dennoch gebe es auch reichlich Anlass zu Kritik, etwa, „wenn, wie in diesem Fall aus nicht-juristischen Gründen – persönlicher Bequemlichkeit oder Inkompetenz, organisatorischem Chaos oder politischem Kalkül – nur bestimmte Verbrechen verfolgt werden oder der überwiegende Teil einer Tätergruppe unbehelligt bleibt“. Die gleichzeitige Verhandlung des „fabrikmäßigen Gaskammer-Mords in Auschwitz und des auf fahrlässiger Vernachlässigung beruhenden Massensterbens in Bergen- Belsen“ habe Verwirrung gestiftet und unklare Konturen in der essentiellen Unterscheidung zwischen Konzentrations- und Vernichtungslagern begründet (S. 391f.). Noch wesentlicher sei die Frage, ob die „Anwendung hergebrachter Rechtsinstrumente, die auf die Verfolgung individueller Täter, nicht aber auf die Aufdeckung politisch motivierter, arbeitsteilig organisierter Verbrechenskomplexe zugeschnitten waren“ (S. 393), überhaupt geeignet sein kann, die entsprechenden Tatbestandskomplexe zu erhellen, und nicht auch Urteile präjudiziert, die vielfach als zu milde kritisiert worden sind. Während das Nürnberger IMT mit innovativen Straftatbeständen wie dem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und dem „Verbrechen gegen den „Frieden“ operierte und auch Organisationsverbrechen festschrieb, verweigerte das Gericht in Lüneburg noch konsequent jede Kollektivstrafbarkeitsregelung. So konnte denn der Belsen-Prozess „weder in seiner juristischen noch politischen Anlage […] an die Dimensionen des IMT heran(reichen): Lüneburg konnte und wollte nicht Nürnberg sein – Ziel des Prozesses war die Bestrafung von ausführenden Tätern der untersten Hierarchiestufen, nicht des Regimes an sich. Die Signalwirkung, die von den Urteilen ausgehen sollte, zielte auf einen Bewusstseinswandel in der deutschen Bevölkerung, nicht aber auf die Schaffung einer ‚Magna Charta des Weltgerichts‘“ (S. 396), doch selbst die Initiierung dieses Wandels muss mit guten Gründen in Zweifel gezogen werden.

 

Das Buch schließt mit der häufig gestellten Kardinalfrage nach dem so schwer begreifbaren Wesen der Täter: Weder „Monster“ noch „Maschine“ seien sie gewesen, „nicht […] willenlos in ihre Handlungen verstrickte, von außen gesteuerte Exekutoren eines übergeordneten ‚Regimewillens‘“, sondern „autonome und für ihr Handeln verantwortliche Individuen mit je eigenen Entscheidungsspielräumen, die ihrem Tun eine ‚subjektive Sinndimension‘ (Gerhard Paul) beimaßen – mitdenkende Terrorexperten, die spezialisiertes Wissen eigenständig anwandten und Vorgaben von oben kreativ weiterentwickelten“. Zudem habe es sich bei den Lüneburger Angeklagten „eher nicht“ um ideologisch motivierte Überzeugungstäter gehandelt, und „keinesfalls waren sie eine elitäre, handverlesene Gruppe von ‚Weltanschauungskriegern‘, deren Zusammensetzung das Ergebnis einer konsequenten Personalpolitik durch die SS gewesen wäre“. Der Verfasser bezweifelt schließlich, dass es methodisch überhaupt möglich sei, die Täter plausibel auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen; eine Verzettelung in deren Eigenarten und Beweggründe impliziere wiederum die Gefahr, letztlich zum reinen Selbstzweck zu verkommen und „ihren aufklärerischen Nutzen (zu) verlieren“ (S. 403ff.).

 

Insgesamt spart John Cramers Dissertation somit keinen wesentlichen, dieses erste große Konzentrationslager-Tribunal berührenden Aspekt aus, wie auch der mit Fußnoten versehene, alle notwendigen Nachweise enthaltende Apparat durchaus seinen Zweck erfüllt. Weshalb der Verlag auf jegliches Register verzichtet, ist nicht nachzuvollziehen, und das Bedürfnis des Auges nach zeitgenössischem Bildmaterial vom Lager, dem Prozess und seinen Protagonisten – immerhin haben die nach der Ankunft der britischen Armee im Lager Bergen-Belsen gemachten filmischen Aufnahmen durch ihren volkserzieherischen Einsatz einen großen Bekanntheitsgrad erlangt – bleibt unbefriedigt. Hingewiesen werden muss auf die Tatsache, dass, wie der Verfasser selbst eingesteht, nach 2006 publizierte Literatur nicht mehr eingearbeitet werden konnte. Gerade in den letzten Jahren sind aber zahlreiche Arbeiten im Bereich der Täterforschung erschienen und haben die Verantwortlichkeit für die mit der nationalsozialistischen Politik einhergehenden Verbrechen deutlich über den Kreis der durch den Spruch des IMT gerne mit der alleinigen Verantwortung beladenen SS-Angehörigen hinaus ausgedehnt. Im Licht dieser neuen, differenzierten, das Zusammenwirken unterschiedlicher Institutionen betonenden Erkenntnisse wäre zu überprüfen, inwiefern eine Strafverfolgung des gesamten im Lager – gerade in untergeordneten Bereichen der Verwaltung oder für Hilfsarbeiten – eingesetzten SS-Personals, das sich, wie Cramer mehrfach beklagt, vielfach der Festnahme entziehen konnte, überhaupt zielführend wäre und an welchen Maßstäben dann die Schuld dieser Leute bemessen werden sollte. Der (allerdings nicht rechtskräftige) Schuldspruch im prominenten Fall Demjanjuk zielt, überraschend abweichend von älteren Urteilen deutscher Gerichte in NS-Verfahren, deutlich stärker auf die Systemzugehörigkeit des Angeklagten als Angehöriger der Wachmannschaft des Lagers ab denn auf eine kaum noch beweisbare, konkrete individuelle Tathandlung; durch den Tod des Angeklagten wurde die Ausjudizierung dieser ans Grundsätzliche rührenden Materie leider unterbunden. Angesichts der unübersehbaren, katastrophalen Zustände im Lager Bergen-Belsen wäre es vielleicht erfolgversprechender und von höherem Erkenntniswert, der Frage nachzugehen, welche Funktionsträger, Behörden und Institutionen jenseits des Lagerzauns davon Kenntnis hatten oder haben mussten und inwieweit diese durch Unterlassung ebenfalls strafrechtlich relevante Schuld auf sich geladen haben. Da mittlerweile jedoch die Zeit weit fortgeschritten ist und das Beweisproblem erheblich vergrößert hat, steht zu befürchten, dass auch solche Überlegungen kaum noch über den Status einer akademischen Diskussion hinauskommen.

 

Kapfenberg                                                                            Werner Augustinovic