Brandes, Detlev, „Umvolkung, Umsiedlung, rassische Bestandsaufnahme“ - NS-„Volkstumspolitik“ in den böhmischen Ländern (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 125). Oldenbourg, München 2012. VI, 309 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Volkstumspolitik des Nationalsozialismus spielte wie in den anderen Ostgebieten auch im Protektorat Böhmen und Mähren und in den Sudetengebieten eine wichtige Rolle. Wie Brandes, der 1991 das Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa an der Universität Düsseldorf begründete, schon in der Einleitung seines Werkes feststellt, sei das Ziel der deutschen Besatzungspolitik nicht nur die Eingliederung der böhmischen Länder, „sondern auch die Germanisierung bzw. ‚Eindeutschung’ des Raumes und eines großen Teils der tschechischen Bevölkerung“ gewesen. In seinem Werk untersucht Brandes die nationalsozialistische Volkstumspolitik in Tschechien, mithin sowohl im Reichsgau Sudetenland – hier lebten 1930 über 700.000 Tschechen – als auch in dem im März 1939 begründeten „Protektorat Böhmen und Mähren“ (mit 7,2 Mio. Tschechen und knapp 200.000 „Deutschen“). Im ersten Teil „Ziele und Grundsatzentscheidungen der deutschen Tschechenpolitik“ (S. 5-37) geht Brandes auf das konfliktreiche Duumvirat Konstantin von Neurath (von 1932 bis 1938 deutscher Außenminister, 1939 Reichsprotektor in Böhmen und Mähren) und Karl Hermann Frank (Staatssekretär beim Reichsprotektor) ein. Aufgrund von aufeinander abgestellten Memoranden entschied sich Hitler im September 1940 für das Weiterbestehen des Protektorats und eine langfristige Assimilierung großer Teile des tschechischen Volkes. Ende September 1941 ernannte Hitler den Chef des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich zum stellvertretenden Reichsprotektor, der infolge eines Attentats Anfang Juni 1942 verstarb. Mitte 1943 wurden Frank die Regierungsgeschäfte als Staatsminister für Böhmen und Mähren übertragen.

 

Im zweiten Teil des Werkes behandelt Brandes die „Bereiche und Methoden der NS-Volkstumspolitik“ (S. 39-177). Mischehen zwischen deutschen Staatsangehörigen und Tschechen bedurften der Genehmigung, wofür im Einzelfall die Aufgabe der deutschen Staatsangehörigkeit durch den deutschen Partner notwendig war (vgl. S. 48ff., 182f., 215f.). Über die rechtlichen Grundlagen der Mischehenregelung fehlen detailliertere Hinweise. Weitere Abschnitte des zweiten Teils befassen sich mit Maßnahmen gegen die tschechische Sprache und die tschechischen Schulen (Schließung der tschechischen Hochschulen 1940; starker Rückgang der Abiturienten, S. 74) sowie mit der Eindeutschung der Wirtschaft und Verwaltung (u. a. Durchdringung der Protektoratsverwaltung im August 1941 durch 6853 Beamte und Angestellte, S. 85). Einen breiten Raum nimmt die Bodenpolitik ein (S. 91-131), zu deren Durchsetzung sich die deutsche Protektoratsverwaltung weiter Teile des tschechischen Enteignungs- und Bodenreformrechts aus der Zeit von 1938 bediente. Hilfreich wäre es gewesen, wenn Brandes auf die Institution des Bodenamtes sowie die tschechische Bodenreformgesetzgebung näher eingegangen wäre. Die Bodenpolitik umfasste die Aussiedlung von Tschechen aus dem Reichsgau Sudetenland und deren Ansiedlung im Protektorat, die Enteignung tschechischer und jüdischer Grundbesitzer im Reichsgau und im Protektorat sowie die „Bereinigung der deutschen Sprachinseln“; mit den sog. Landbrücken sollte durch Ansiedlung von Volksdeutschen aus Südosteuropa und Südtirol der tschechische Siedlungsraum zersplittert werden. Eine wichtige Rolle spielten hierbei die Erweiterung und Anlegung von Truppenübungsplätzen, die Siedlungsvorhaben vorbereiten sollten.

 

Im dritten Teil des Werkes befasst sich Brandes mit der Rassenpolitik (S. 179ff.; Eindeutschung gemäß subjektiven Bekenntnis oder nach rassischen Merkmalen; Eindeutschung im „Altreich“ durch Studium und Arbeitseinsatz und rassische Bestandsaufnahme). Heydrich setzte gegenüber der Protektoratsverwaltung durch, dass Grundlage für die nach Kriegsende vorzunehmende Eindeutschung eine rassische Bestandsaufnahme der tschechischen Bevölkerung sein sollte. Diese wurde ab Februar 1943 durch eine Außenstelle des Rasse- und Siedlungshauptamtes in Prag durchgeführt (S. 194ff.; Erfassung von etwa 5% der tschechischen Bevölkerung). Hierbei wurden 47% der Tschechen (nach Meinung von einigen Rasseexperten bis zu 86%) als eindeutschungsfähig eingestuft. Insgesamt veranlasste nach Brandes nicht nur die Rücksicht auf die Rüstungsindustrie die „NS-Behörden zur Begrenzung des Terrors und zur Tarnung ihrer Fernziele, sondern auch ihr Vorhaben, einen großen Teil der Tschechen ‚umzuvolken’ und deshalb nicht in die totale Opposition zu treiben“ (S. 235). Allerdings galt dies nicht für die Juden und Roma, deren Entrechtung, Deportation und Ermordung Brandes in einem eigenen Kapitel schildert (S. 222-230). Auf den S. 226ff. befasst sich Brandes mit der Aussiedlung der Einwohner von Theresienstadt, von wo aus die meisten jüdischen Häftlinge in die östlichen Vernichtungslager deportiert wurden. Das Werk wird abgeschlossen mit einer umfangreichen Zusammenfassung (S. 235-249), die auch ins Tschechische übersetzt wurde, mit einem umfangreichen Sach- und Ortsregister (mit einer Ortskonkordanz) und mit einem Personenregister, das die Lebensdaten und die Funktionen der erfassten Personen aufführt. Das Werk beruht zu weiten Teilen auf der archivalischen Überlieferung im Bundesarchiv Berlin, im Institut für Zeitgeschichte und im Prager Nationalarchiv; gleichzeitig ist die umfangreiche tschechische Literatur zur Protektoratszeit berücksichtigt. Insgesamt vermittelt das Werk von Brandes dem Rechtshistoriker einen umfassenden Einblick in die Rechtspraxis der nationalsozialistischen Volkstumspolitik in den böhmischen Ländern, deren normative Erfassung auch Aufgabe der Rechtsgeschichte sein sollte (vgl. hierzu die Arbeiten von Diemut Majer, insbesondere deren Werk: „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard am Rhein 1981).

 

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Werner Schubert