Bismarck, Otto von, Gesammelte Werke, Neue Friedrichsruher Ausgabe, hg. v. Afflerbach, Holger/Canis, Konrad/Gall, Lothar/Hildebrand, Klaus/Kolb, Eberhard. Abteilung IV: Gedanken und Erinnerungen, bearb. v. Epkenhans, Michael/Kolb, Eberhard. Schöningh, Paderborn 2012. XXXI, 616 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Vor nunmehr bald 15 Jahren wurde mit Beschluss des Deutschen Bundestages 1997 die Otto-von-Bismarck-Stiftung zur Verwaltung des umfangreichen Nachlasses des langjährigen Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten ins Leben gerufen. Eine ihrer zentralen Aufgaben besteht in der historisch-kritischen Edition seines umfangreichen Schrifttums; das Ersetzen und Ergänzen älterer Sammlungen, allen voran die von Erich Marcks, Friedrich Meinecke und Hermann Oncken besorgte „Friedrichsruher Ausgabe“ (1924-1935), erscheint geboten, werden doch jene bemühten Vorhaben der Vergangenheit heute weder hinsichtlich der Vollständigkeit des versammelten Materials noch hinsichtlich der Editionskriterien den modernen wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht. Das aktuelle Projekt greift den alten Namen auf und nennt sich „Neue Friedrichsruher Ausgabe“ (NFA); ihre Abteilung III (Schriften) hat unter dem gegenwärtig aus den ausgewiesenen Bismarck-Experten Holger Afflerbach, Konrad Canis, Lothar Gall, Klaus Hildebrand und Eberhard Kolb bestehenden Herausgeberteam bislang sechs (von insgesamt acht geplanten) umfangreiche, die schriftlichen Zeugnisse Bismarck’scher Politik von 1871 bis 1885 beinhaltende Bände publiziert.

 

Als Abteilung IV der NFA haben nun Michael Epkenhans und Eberhard Kolb eine Neubearbeitung des bereits in zahlreichen, sich mitunter erheblich voneinander unterscheidenden Ausgaben vorliegenden und weit verbreiteten Memoirenwerks des „Eisernen Kanzlers“ vorgenommen. Die Entstehungsgeschichte dieses Bestsellers ist gemeinhin bekannt: Nach der entwürdigenden Entlassung des Reichskanzlers aus seinem Amt durch Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1890 suchte Bismarck nach einem adäquaten Ventil, um mit der Politik des Monarchen abzurechnen. Ein Vertrag mit dem Verlagshaus Cotta wurde abgeschlossen, und nach Vorarbeiten im Familienkreis wurden mit tatkräftiger Unterstützung des Sekretärs Lothar Bucher bis zu dessen Tod 1892 entsprechende Manuskripte zu Papier gebracht. Erst nach dem Ableben Bismarcks 1898 wurde der ursprünglich als erster Band vorgesehene Manuskriptteil (er setzt mit dem Jahr 1832 ein, als Otto von Bismarck das Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin abgeschlossen hatte, und endet mit Ausführungen zu Kaiser Friedrich, der im Dreikaiserjahr 1888 auf Wilhelm I. folgte und von Wilhelm II. in der Führung des Reiches beerbt wurde) von Horst Kohl umgearbeitet und zweibändig veröffentlicht. Der ursprünglich zweite, nunmehr dritte Teil des Werks (er beschäftigt sich in seinem ersten Kapitel mit dem Prinzen Wilhelm, beinhaltet unter anderem die Vorgänge um Bismarcks Entlassung und schließt mit Ausführungen des Ex-Kanzlers zum Handelsvertrag mit Österreich, die ihm Anstoß zu allgemeinen Bemerkungen und Einschätzungen zur Aufgabe der Politik sind) wurde mit Rücksicht auf Wilhelm II. streng unter Verschluss gehalten und erschien erst nach langen Auseinandersetzungen im September 1921.

 

Das gesamte Werk ist inhaltlich keineswegs als detailgetreue Darstellung der Vergangenheit zu lesen, sondern vielmehr als ein Lehrbuch der Politik, denn, so die Bearbeiter in ihrer Einleitung: „Die Entscheidung für diese spezifische Form der Memoiren war im Grunde genial. Sie ermöglichte es Bismarck, seine auf Quellen gestützten ‚objektiven‘ Erinnerungen hinter seinen ‚subjektiven‘ Gedanken, seinen ‚Reflexionen‘ über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zurücktreten zu lassen. Aus seinen nationalpädagogischen Absichten machte der ‚Reichsgründer‘ […] auch gar keinen Hehl“ (S. XV). Eine gekonnte Gliederung, bewusstes Weglassen (so finden die soziale Frage oder das Sozialistengesetz keinerlei Erwähnung), Ungenauigkeiten und sogar Unwahrheiten waren ihm geeignete Mittel zum Zweck, das Ideal einer monarchischen Gewalt, des Maßhaltens und des politischen Ausgleichs bestmöglich zu propagieren. Ein Blick auf die Rezeption im Wandel der Zeit lässt erkennen, dass Bismarcks Person und Werk, dem Literaturwissenschaftler hohe literarische Qualität bescheinigen, in der Folge zu unterschiedlichen politischen Zwecken und bis in die jüngere Vergangenheit instrumentalisiert worden sind.

 

Authentizität und Benutzerfreundlichkeit sind die Leitlinien, denen die Herausgeber und Bearbeiter der vorliegenden Neuedition im Rahmen der NFA folgen wollen. Die im Archiv der Stiftung verwahrten Unterlagen haben es möglich gemacht, Eingriffe von dritter Seite zu eliminieren und die von Bismarck persönlich autorisierten Textfassungen - unter Verzicht auf einen umfangreichen textkritischen Apparat, wie ihn die älteren, ebenfalls textauthentischen Ausgaben von Gerhard Ritter/Rudolf Stadelmann (1932) und von Rudolf Buchner (1975) enthalten - anzubieten. Die Wiedergabe des Textes erfolgt buchstabengetreu unter Beibehaltung der originalen Orthographie, Zeichensetzung und Absatzgliederung, beim wissenschaftlichen Apparat wurde ein „Mittelweg zwischen dem bisher praktizierten weitgehenden Verzicht auf Sachanmerkungen einerseits und einer denkbaren sehr ausführlichen Kommentierung andererseits“ (S. XXX) beschritten. Nicht jedermann wird allerdings mit diesen knapp gehaltenen Annotationen, die sich im Wesentlichen auf biographische Erläuterungen, Verweise auf ältere Textausgaben und Marginalien, Worterklärungen und Hinweise auf den historischen Kontext beschränken, das Auslangen finden; die fehlende Einarbeitung von kontrovers diskutierten Forschungsfragen und aktuellen Forschungsergebnissen oder zumindest von Hinweisen auf die in diesem Zusammenhang relevante Literatur kann nur als Manko und vergebene Chance gesehen werden. Fast ist man geneigt anzunehmen, die Aufnahme zweier Anhänge, deren erster auf nur drei Seiten zwei fragmentarische Entwürfe zum Brief Bismarcks an Gerlach vom 25./30. Mai 1857 enthält, während der zweite mit über 60 Druckseiten wesentlich umfangreicher ausfällt und fünf bislang unveröffentlichte Aufzeichnungen Herbert von Bismarcks aus den Jahren 1890 bis 1896 mit im Verhältnis zu den anderen Abschnitten der Edition ausführlicherer Kommentierung dokumentiert (es seien nämlich in diesen Aufzeichnungen „zahlreiche Hintergrundinformationen und etliche, teilweise pikante Personalia festgehalten“; S. XXX), solle gleichsam einen Ausgleich für das vorhin beanstandete Fehl bilden und die Neuausgabe entsprechend aufwerten.

 

Um zu veranschaulichen, wie sehr Otto von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ auch jedem Juristen als Pflichtlektüre ans Herz gelegt werden sollten, sei beispielhaft eine beliebig herausgegriffene, verfassungsrechtliche Fragen erörternde Textstelle zitiert: „Bei dem Kaiser Friedrich war die Neigung vorhanden, der Verlängerung der Legislaturperiode von drei auf fünf Jahre im Reiche und in Preußen die Genehmigung zu versagen. In Betreff des Reichstags setzte ich ihm auseinander, daß der Kaiser als solcher kein Factor der Gesetzgebung sei, sondern nur als König von Preußen durch die Preußische Stimme am Bundesrathe mitwirke; ein Veto gegen übereinstimmende Beschlüsse beider gesetzgebenden Körperschaften habe ihm die Reichsverfassung nicht beigelegt. Diese Auseinandersetzung genügte, um Se. Majestät zur Vollziehung des Schriftstücks, durch welches die Verkündigung des Gesetzes vom 19. März 1888 angeordnet wurde, zu bestimmen. Auf die Frage Sr. Majestät, wie sich die Sache nach der preußischen Verfassung verhalte, konnte ich nur antworten, daß der König dasselbe Recht habe, einen Gesetzentwurf anzunehmen oder abzulehnen, wie jedes der beiden Häuser des Landtags. Se. Majestät lehnte dann vor der Hand die Unterzeichnung ab, sich die Entschließung vorbehaltend. Es entstand also die Frage, wie das Staatsministerium, welches die Königliche Zustimmung beantragt hatte, sich zu verhalten habe. Ich befürwortete und erreichte, daß einstweilen auf eine Erörterung mit dem Könige verzichtet wurde, weil derselbe ein unzweifelhaftes Recht ausübe, weil überdies der Gesetzentwurf vor dem Thronwechsel eingebracht war und endlich weil wir vermeiden müßten, die wegen der Krankheit des Monarchen ohnehin schwierige Situation durch Anregung von Cabinetsfragen zu verschärfen. Die Sache erledigte sich dadurch, daß Se. Majestät mir am 27. Mai auch das Preußische Gesetz vollzogen aus eignem Antriebe zugehen ließ“ (S. 397 = Gedanken und Erinnerungen Bd. I, Zweites Buch, Kap. 22: Kaiser Friedrich; die Stelle bleibt von den Bearbeitern unkommentiert).

 

Ein gutes Argument, Bismarcks Memoiren in der Fassung der NFA zu studieren, ist neben der informativen Einleitung das auf dem neuesten Stand gehaltene Quellen- und Literaturverzeichnis; darin findet sich unter anderem eine Aufstellung, die 30 deutsche und fremdsprachige Ausgaben des Werks, beginnend mit der in Stuttgart verlegten Erstausgabe der Bände (= Bücher) I und II von 1898 und den noch im selben Jahr erscheinenden italienischen, schwedischen, englischen und spanischen Ausgaben bis hin zum e-book aus 2011 verzeichnet. Zu loben sind auch die umfangreichen Personen- und Ortsregister, ein Sachregister fehlt. Zu welcher Edition der „Gedanken und Erinnerungen“ ein Nutzer letztendlich greifen wird, wird von seinen Zielen abhängen: Das hier besprochene Werk ist trotz der angesprochenen Schwächen in der Konzeption in vielen Bereichen das modernste; wem hingegen die Textgenese erstes Anliegen ist, der wird weiterhin auf die historischen Ausgaben von Ritter/Stadelmann und Buchner angewiesen sein.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic