Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen. Der juristische Umgang mit der Vergangenheit in den Ländern Mittel- und Osteuropas, hg. v. Nußberger, Angelika/Gall, Caroline von (= Jus internationale et Europaeum 52). Mohr (Siebeck, Tübingen 2011. XIV, 400 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Welt der Menschen kennt neben dem zur Sicherung des Seins entwickelten Recht auch sein Gegenteil. Beide geschehen in der Zeit an unzähligen Stellen, wenn auch das Recht das Unrecht wohl eindeutig überwiegt. Unabhängig von diesem Verhältnis ermöglicht der menschliche Verstand sowohl das Erinnern wie das Vergessen, wobei Täter das Vergessen bevorzugen und Opfer das Erinnern versuchen dürften.

 

Auf diesem allgemeinen Hintergrund fand an der Universität Köln im Juli 2010 eine rechtswissenschaftliche Fachtagung über den juristischen Umgang mit der Vergangenheit in den Ländern Mitteleuropas und Osteuropas statt, die Forscher aus Russland, Polen, Tschechien, Ungarn, Österreich und Deutschland zusammenführte und Juristen mit Historikern und Slawisten verband. Ihre 20 Beiträge legt der vorliegende Sammelband nunmehr, erfreulicherweise durch ein Sachverzeichnis aufgeschlossen, der Öffentlichkeit vor. Sie gliedern sich in den wertenden Blick zurück, die Fortwirkung der Geschichte, das Minderheitenrecht auf geschichtlicher Grundlage, die Aufarbeitung der Geschichte als Thema der Verfassungsrechtsprechung und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und in Juristische Geschichtspolitik.

 

Dabei stellt etwa Martin Schulze Wessel zu Beginn Geschichte vor Gericht, während Angelika Nußberger das Verhältnis von Vergangenheitsbewältigung und Recht als fortwirkende Herausforderung erklärt. Otto Luchterhandt, Tomasz Milej und Władysław Czapliński untersuchen die Bedeutung von Grenzen an ausgewählten Beispielen, Michael Geistlinger, Carmen Schmidt, Vladimir A. Krjažkov, Nina Waschkau und Herbert Küpper das Minderheitenrecht sowie Pavel Holländer, Gábor Halmai, Anatolij Kononov und Lech Garlicki die Argumentation auf historischer Grundlage bzw. eigentumsrechtliche Probleme in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Rahmen der juristischen Geschichtspolitik behandelt etwa Caroline von Gall die gesetzliche Zementierung eines geschichtlichen Weltbildes in Russland oder Friedrich-Christian Schroeder den Einsatz des Strafrechts zur Durchsetzung historischer Gerechtigkeit, während Tamara G. Morščakova am Ende des vielfältige Aufschlüsse bietenden, interessanten Bandes die alte Frage einmal mehr stellt, was uns die Geschichte lehre?

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler