Bethan, Anika, Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen (= Die Revolutions- und napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung 2). Schöningh, Paderborn 2012. 450 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Das Königreich Westphalen war nach seinem Untergang im Jahre 1813 „Gegenstand unterschiedlicher Erinnerungsprozesse“. Bethan geht in ihrem Werk der Frage nach, in welchem Kontext und in welcher Funktion die Erinnerungen an das Königreich Westphalen bis 1871 auftauchen. Zu diesem Zweck untersucht sie „Kohäsionsprozesse relevanter Gruppen“ wie des Militärs, der Beamtenschaft und der westphälischen Aufständischen als „Schnittpunkte“, in denen sich die „Erinnerungstendenzen verdichten“ (S. 18). Im Abschnitt über das westphälische Heer ist von rechtshistorischem Interesse die seltene strafrechtliche Verfolgung von früheren höheren Offizieren, die in den westphälischen Dienst übergetreten waren. Auf den Seiten 60ff. berichtet Bethan über den Obersten Schraid, der 1814 in Kurhessen zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt wurde. Hier hätte man gerne mehr noch über die Rechtsgrundlagen dieser und anderer Verurteilungen gelesen. Auf den Seiten 87 ff. geht es um die Reklamationen (Ansprüche auf in westphälischer Zeit unterbliebene Soldzahlung und auf Pensionen) von Angehörigen des westphälischen Militärs. Preußen, dann auch Hannover (1835) sowie auch Braunschweig gaben den Reklamationen zumindest teilweise statt. Für die Stadt Göttingen sind im dortigen Stadtarchiv 104 Gesuche auf Reklamationen aus der Zeit ab 1835 erhalten, von denen 40 % unberücksichtigt blieben (S. 95, 99). In Kurhessen kam es dagegen nur „sehr schleppend“ und sehr restriktiv zur Anerkennung von Reklamationen (S. 93). Weitere Abschnitte behandeln die Erinnerungen an die Kriegstoten des Russlandfeldzugs und die französische und britische Perspektive hinsichtlich des westphälischen Militärs.

 

Im nächsten Abschnitt über die westphälischen Beamten (S. 131ff.) geht Bethan u. a. auf die politischen Prozesse gegen höhere Beamte ein; für das Gebiet des heutigen Niedersachsen ist von 40 solchen Prozessen auszugehen, die nur bei drei Beamten zu härteren Strafen führten (S. 135). In Kurhessen kam es ebenfalls nur selten zur Bestrafung höherer Beamter (S. 139). Leider ist zur Rechtsgrundlage der Verurteilungen nichts Näheres gesagt. Die Professoren der Universitäten Göttingen und Marburg wurden von den Landesherren nahezu vollständig bestätigt. Lediglich der Rechtswissenschaftler Justus Christoph Leist erfuhr eine erhebliche berufliche Degradierung (S. 143). Von den Spitzenbeamten Westphalens wurden negativ bewertet der Innenminister Wolffradt und der zweite Finanzminister des Königreichs von Malchus (S. 145ff.), während der erste Finanzminister von Bülow und Johannes von Müller als „redliche Deutsche“ galten (S. 151ff.).Exzesse und Selbstjustiz gegen westphälische Beamte zwischen 1813 und 1815 führten insgesamt zu nicht sehr hohen Strafen (S. 157ff.). Nach einem Abschnitt über die westphälische Hohe und Geheime Polizei (S. 174ff.) werden im Kapitel über „juristische Nachwirkungen“ behandelt Fragen der Rückzahlung von Anleihen und der Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit der Domänenverkäufe, welch letztere von Preußen als wirksam angesehen wurden (S. 186ff.). Die westphälische Zeit wurde in den Reformdiskussionen nach 1813 insbesondere in der Beamtenschaft als „ein mögliches Vorbild“ diskutiert und rezipiert (S. 215). Im Abschnitt über die „(anti-)westphälischen Aufständischen“ hätten die Ausführungen zur strafrechtlichen Ahndung ihrer Aktivitäten etwas ausführlicher sein können. Der Abschnitt über die Aufständischen enthält ferner Kapitel über die europäische Wahrnehmung der Aufstände, die „Selbstpositionierung der Insurgenten“ und über das öffentliche Gedenken in den deutschen Territorialstaaten. Der Schlussteil: „Die Erinnerung an das Königreich Westphalen“ fasst die Ergebnisse der Untersuchungen zusammen und bringt im Hinblick auf die Beurteilung der westphälischen Zeit einen Ausblick auf die Auswirkungen des Deutsch-Französischen Krieges, die 100jährigen Jubiläen und die Untersuchungen über das Königreich Westphalen zu Beginn des 21. Jahrhunderts (S. 308ff., 322ff.). Das Werk, eine im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts „Nationen, Grenzen, Identitäten. Die Revolutions- und napoleonischen Kriege in der Europäischen Erinnerung, 1815-1945“ an der TU und FU Berlin entstandene Dissertation, stellt aus rechtshistorischer Sicht eine gute Grundlage für weiterführende rechtshistorische Untersuchungen über die noch immer nicht hinreichend beschriebenen Einflüsse des fortschrittlichen westphälischen Rechts auf die rechtspolitischen Diskussionen und die Gesetzgebung in den Nachfolgestaaten Hannover, Kurhessen, Braunschweig und Preußen dar.

 

Kiel

Werner Schubert