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Kershaw, Ian, Das Ende. Kampf bis in den Untergang, NS-Deutschland 1944/45. Aus dem Englischen von Binder, Klaus/Leineweber, Bernd/Pfeiffer, Martin. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 704 S., zahlr. Abb. und Kart. Besprochen von Martin Moll.

Kershaw, Ian, Das Ende. Kampf bis in den Untergang, NS-Deutschland 1944/45. Aus dem Englischen von Binder, Klaus/Leineweber, Bernd/Pfeiffer, Martin. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 704 S., zahlr. Abb. und Kart. Besprochen von Martin Moll.

 

Der 1943 geborene, seit seiner Erhebung in den Ritterstand durch Königin Elisabeth II. nunmehrige Sir Ian Kershaw gehört – weit über sein Heimatland Großbritannien hinaus – zu den führenden Historikern der Erforschung der NS-Zeit. Es nimmt nicht Wunder, dass seine Hauptwerke – vor allem eine zweibändige Hitler-Biographie und „Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg“ – zügig übersetzt werden. So verhält es sich auch mit seiner jüngsten Monographie „The End. Hitler’s Germany 1944-45“, dessen deutsche Ausgabe noch im Jahr des Erscheinens des englischen Originals herauskam.

 

Kershaws Ausgangspunkt, ja der rote Faden des Buches, ist die naheliegende Frage, wie es möglich war, dass Millionen Deutsche, Soldaten wie Zivilisten, den von Hitler entfesselten Weltkrieg selbst in aussichtsloser Lage fortsetzten, bis – buchstäblich – die Sowjets vor dem Berliner „Führerbunker“ standen und Deutschland bis auf kleine Reste von den Alliierten besetzt war. Warum gab es, fragt Kershaw, nach dem gescheiterten Putsch vom 20. Juli 1944 keinen weiteren Versuch, das Regime von innen heraus zu stürzen und den Krieg zu beenden, obwohl sich im Frühjahr 1945 – wie jedermann unschwer erkennen konnte und tatsächlich auch erkannte – die militärische Lage gegenüber dem Sommer des Vorjahres drastisch verschlechtert hatte? In vergleichender Perspektive wundert man sich zudem über das widerspruchslose Weiterkämpfen der Wehrmacht, wenn man bedenkt, dass die Militärelite des Kaiserreiches im Herbst 1918 ihren Monarchen in einer weit weniger tristen Situation zu Abdankung und Hinnahme der Niederlage gezwungen hatte, bevor noch Truppen der Entente deutschen Boden betraten.

 

Alle diese Fragen sind weder neu noch originell; sie haben unterschiedliche Antworten gefunden, unter denen der Verweis auf den jede Auflehnung ausschließenden Terror des NS-Regimes, den fortbestehenden „Führer-Glauben“ gepaart mit dem Hitler geleisteten Eid, Furcht vor der Rache der (sowjetischen) Sieger wie auch das Fehlen einer Chance zur Kriegsbeendigung auf dem Verhandlungsweg immer wieder genannt werden. Kershaw diskutiert ältere Erklärungen anderer Forscher kaum, sondern erzählt in bester angelsächsischer Tradition das Geschehen, beginnend mit dem Sommer 1944, als die alliierte Invasion Frankreichs als geglückt anzusehen, die Ostfront (wenngleich nur kurzfristig) zusammengebrochen und der Staatsstreich der Stauffenberg-Gruppe gescheitert waren. Von da an wird im Wesentlichen Bekanntes berichtet, so dass hier wenige Stichworte zu Kershaws Schwerpunkten genügen: Näherrücken der Fronten von West, Ost und Süd an die Reichsgrenzen und darüber hinaus, sich intensivierender alliierter Luftkrieg, rasantes Ansteigen der kaum noch auszugleichenden Verluste der Wehrmacht sowie Absinken der Rüstungsproduktion. Dies alles war begleitet von gnadenloser Härte des NS-Regimes gegenüber jedem noch so leisen Indiz für inneren Widerstand wie auch von einer noch größeren Brutalität gegen die Insassen von Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern.

 

Kershaw versteht es meisterlich zu erzählen; es gelingt ihm auch, die durchaus unterschiedlichen Wahrnehmungen, Perspektiven und Zukunftserwartungen von Soldaten und Zivilisten, der NS-Führung und des „kleinen Mannes“, Deutscher in Ost und West gleichermaßen in den Blick zu nehmen und daraus ein facettenreiches Bild zu formen. Ebenso beeindruckend sind die vom Autor ausgewertete Fachliteratur (von großen Überblickswerken bis zu Lokalstudien) sowie seine stupende Quellenkenntnis, wobei die Primärquellen den Text tatsächlich tragen.

 

Wo viel Licht ist, da ist auch Schatten, sagt man. Das Buch ist einfach zu lang geraten, woran der Leser vor allem durch die ständigen Wiederholungen gewisser Kernaussagen (die Mehrzahl der Deutschen sah schlicht keine Alternative zu Hitler; Soldaten waren motiviert durch die vermeintliche Verteidigung der Heimat, nicht durch ideologische Nähe zum Nationalsozialismus; es gab Fanatiker ebenso wie entschlossene Gegner des Regimes und insbesondere viele Abwartende usw.) erinnert wird. Kershaw führt eine Palette von Ursachen für diesen – historisch übrigens ausgesprochen seltenen – Fall des Weiterkämpfens eines Staates (vor allem seines Militärs) bis zur Selbstvernichtung an; als entscheidend bewertet er die „Strukturen nationalsozialistischer Herrschaft und die ihnen zugrunde liegenden Einstellungen“; alle übrigen oben genannten Faktoren „waren der Struktur des charismatischen Führerregimes … untergeordnet“ (S. 541).

 

So richtig dies sein mag: Am Ende der Lektüre ist man nicht wesentlich klüger als zuvor, was auch daran liegen kann, dass es auf die Leitfrage des Autors eine rationale Antwort schlechterdings nicht gibt. Diese Einwände schmälern nicht den Wert dieser ausgezeichnet übersetzten, multiperspektivischen Studie, die mit eindringlichen Worten die Schreckensbilder eines sehenden Auges auf den Untergang zusteuernden, mörderischen Regimes in Erinnerung ruft. Weniger die Fachwelt, wohl aber breitere interessierte Leserkreise werden Kershaw für dieses – wenn auch recht umfangreiche – Werk sicherlich dankbar sein.

 

Graz                                                                                       Martin Moll