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Sauer, Barbara/Reiter-Zatloukal, Ilse, Advokaten 1938 - Das Schicksal der in den Jahren 1938 bis 1945 verfolgten österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, hg. v. Verein zur Erforschung der anwaltlichen Berufsgeschichte der zwischen 1938 und 1945 diskreditierten Mitglieder der österreichischen Rechtsanwaltskammern. Manz, Wien 2010. 386 S. Besprochen von Werner Schubert.

Sauer, Barbara/Reiter-Zatloukal, Ilse, Advokaten 1938 - Das Schicksal der in den Jahren 1938 bis 1945 verfolgten österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, hg. v. Verein zur Erforschung der anwaltlichen Berufsgeschichte der zwischen 1938 und 1945 diskreditierten Mitglieder der österreichischen Rechtsanwaltskammern. Manz, Wien 2010. 386 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Mit dem vorliegenden Werk werden in Kurzbiographien alle verfolgten österreichischen Rechtsanwälte erfasst, die in der NS-Zeit aufgrund ihrer jüdischen Herkunft (1830 Rechtsanwälte) oder aus politischen und sonstigen Gründen (89 Rechtsanwälte) ihre Zulassung zur Advokatur verloren. Das Werk geht zurück auf einen Beschluss des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages im Jahre 2008, in dem auch der im Buchtitel genannte Verein begründet wurde. Erarbeitet wurde das Werk von Ilse Reiter-Zatloukal (Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte an der Universität Wien) und der Historikerin Barbara Sauer (S. 14). Im ersten Einleitungsteil beschreibt Reiter-Zatloukal die österreichische Rechtsanwaltschaft von 1918 bis 1938 (S. 1-31). Nach einem Abschnitt über den Antisemitismus seit dem Fin de siècle behandelt sie die schlechte wirtschaftliche Lage der Anwaltschaft in der Ersten Republik und unter dem Austrofaschismus, deren Organisation und Berufsausübung sowie die „Anwälte in öffentlichrechtlichen Funktionen“. Seit 1851 bestanden in Österreich Rechtsanwaltskammern; seit 1869 war die freie Advokatur gewährleistet, die in Preußen erst 1879 mit der Reichsrechtsanwaltsordnung eingeführt wurde. Erste Eingriffe in die Standesautonomie fanden bereits 1935 statt (S. 25). Mit dem „Anschluss“ Österreich an das Deutsche Reich wurde die deutsche Gesetzgebung zur Rechtsanwaltschaft inhaltlich sukzessive eingeführt (Texte S. 28 im Beitrag von Sauer).

 

Seit einer Verordnung vom 31. 3. 1938 konnte der Reichsjustizminister jüdischen Rechtsanwälten und Verteidigern in Strafsachen die Ausübung ihres Berufs vorläufig untersagen (RGBl. I 1938, 353); seit dem 27. 9. 1938 unterlagen auch sog. jüdische Mischlinge dem Vertretungsverbot. Die genannte Verordnung (RGBl. I 1938, 1403) ordnete an, dass jüdische Rechtsanwälte bis zum 31. 12. 1938 in der Liste der Rechtsanwälte zu löschen waren (spätere Fristverlängerungen bis zum 30. 6. 1939). 1941 wurde die Reichsrechtsanwaltsordnung von 1936 eingeführt. – Der zweite Einleitungsteil von Sauer befasst sich mit den „Quellen, Methoden und Ergebnissen zu den Biographien NS-verfolgter Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte“ (S. 33-72). Die erste in Österreich 1928 in die Rechtsanwaltsliste eingetragene Frau war Marianne Beth (S. 36f., 90f.), die einer jüdischen Anwaltsfamilie entstammte. Bereits der „Anschluss“ bedeutete für die meisten jüdischen Rechtsanwaltskanzleien „das (ökonomische) Ende“ (S. 43). Zur Zeit des „Anschlusses“ waren in Österreich rund 3100 Juristen als Rechtsanwälte tätig (davon 2541 Rechtsanwälte im Bezirk der Rechtsanwaltskammer für Wien, Niederösterreich und das Burgenland), von denen fast zwei Drittel jüdischer Abstammung war. Die Zahl der an der Rechtsanwaltskammer Wien eingetragenen Rechtsanwälte verringerte sich zum 1. 1. 1939 auf 771 Mitglieder. 143 der jüdischen Anwälte waren zumindest kurzfristig als Konsulenten tätig. Sauer beschreibt im Einzelnen den Ablauf der Löschungen in der Rechtsanwaltsliste und die Auflösung der Kanzleien, die Deportationen in die Konzentrationslager von Dachau und Buchenwald (1938), die Deportationen ab 1939 und in diesem Zusammenhang einige exemplarische Lebensgeschichten (S. 54ff.). Nach dem Krieg kehrte eine vergleichsweise hohe Zahl von Rechtsanwälten (mindestens 249) nach Österreich zurück (S. 69). Insgesamt erfasst das Werk, anders als das von Simone Ladwig-Winters für die deutschen jüdischen Rechtsanwälte (hierzu W. Schubert, SZGA 126 [2009], S. 827ff.] die diskreditierten Mitglieder der österreichischen Rechtsanwaltskammern vollständig. Zu bedauern ist, dass von der Anlage des Werkes aus als Gedenkbuch die Biographien sehr knapp geraten sind. Aus diesem Grunde wäre es zumindest hilfreich gewesen, wenn die in den Einleitungen näher behandelten Rechtsanwälte durch ein Personenverzeichnis erschlossen worden wären. Mit dem Werk von Sauer/Reiter-Zatloukal liegt ein Grundlagenwerk zur Geschichte der Rechtsanwaltschaft unter dem Nationalsozialismus vor. Eine ähnlich breite Dokumentation für die österreichischen Notare (hierzu bei Alexander Mejstrik, Berufsschädigungen in der nationalsozialistischen Neuordnung der Arbeit:vom österreichischen Berufsleben 1934 zum völkischen Schaffen 1938-1940, Wien 2004, S. 169ff.) in der Zeit von 1938 bis 1945 wäre wünschenswert.

 

Kiel

Werner Schubert