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Ostermann, Tim, Die verfassungsrechtliche Stellung des Deutschen Kaisers nach der Reichsverfassung von 1871 (= Europäische Hochschulschriften 2, 4932). Lang, Frankfurt am Main 2009. LIX, 247 S. Besprochen von Christoph Schmetterer.

Ostermann, Tim, Die verfassungsrechtliche Stellung des Deutschen Kaisers nach der Reichsverfassung von 1871 (= Europäische Hochschulschriften 2, 4932). Lang, Frankfurt am Main 2009. LIX, 247 S. Besprochen von Christoph Schmetterer.

 

In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind zahlreiche Publikationen zum letzten deutschen Kaiser, Wilhelm II., erschienen, wie insbesondere die monumentale dreibändige Biographie von John Röhl. Eine zentrale Frage in der Literatur zu Wilhelm II. ist, inwieweit dieser Kaiser ganz persönlich die deutsche Politik von 1888 bis 1918 prägte. Interessanterweise wurden die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Kaisers in diesem Zusammenhang bisher wenig thematisiert. Diese Lücke schließt nun die Arbeit von Tim Ostermann.

 

Nach einer allgemeinen Einleitung (1. Teil) behandelt der Autor die Entwicklung der Kaiserwürde in Deutschland vom Kaisertum des Alten Reiches über die Paulskirchenverfassung bis zum Norddeutschen Bund (2. Teil).

 

Der 3. Teil befasst sich dann mit dem deutschen Kaiser in der Reichsverfassung von 1871. Ostermann betont, dass nicht die Kaiserproklamation in Versailles, sondern die Annahme der Reichsverfassung konstitutiv für die Entstehung der Kaiserwürde war. Er behandelt die Alternativen zum Titel „Deutscher Kaiser“ wie den von Wilhelm I. favorisierten Titel „Kaiser von Deutschland“, der daran scheiterte, dass das neue Staatswesen weder Deutschland hieß, noch der Kaiser dessen Souverän war. Erwerb und Verlust der Kaiserwürde waren an das preußische Königtum gekoppelt. Die Thronfolge des Kaisers richtete sich somit nach der des Königs von Preußen. Daher war auch nur eine gleichzeitige Abdankung als deutscher Kaiser und als König von Preußen möglich. Die (nicht ausgeführten) Pläne Wilhelms II., im November 1918 zwar als deutscher Kaiser, nicht aber als König von Preußen abzudanken, hätten somit nicht der Verfassung entsprochen. Ostermann führt überzeugend aus, dass Wilhelm II. erst am 28. 11. 1918 durch eine im niederländischen Exil ausgestellte Urkunde abdankte, auch wenn seine Regierungsgewalt faktisch schon am 10. 11. 1918 mit dem Verlassen Deutschlands geendet hatte. Weniger überzeugend sind seine Überlegungen, ob die Monarchie in Deutschland im November 1918 hätte gerettet werden können. Ostermanns These, dass dies möglich gewesen wäre, wenn einer der unbelasteten Söhne oder Enkel Wilhelms die Regierung übernommen hätte, ist nicht nur sehr hypothetisch, sondern auch ohne verfassungsrechtliche Relevanz.

 

Insgesamt ist es aber sinnvoll, dass sich der Autor nicht nur auf die formalrechtliche Position des deutschen Kaisers beschränkt, sondern diese auch in Beziehung zur politischen Praxis setzt. Hier spielten das Zivil-, Militär- und Marinekabinett, die alle in der Verfassung nicht vorgesehen waren, eine entscheidende Rolle. Gerade bei Wilhelm II. war das Problem der „unverantwortlichen Ratgeber“ (wie etwa Philipp zu Eulenburg) schon in der zeitgenössischen Wahrnehmung so ausgeprägt, dass Ostermann dieses Thema ausführlicher hätte behandeln können. Die Unverantwortlichkeit des Kaisers selbst war in der Reichsverfassung nicht geregelt, ergab sich aber einerseits aus der Unverantwortlichkeit des Königs von Preußen und der ausdrücklich festgelegten Verantwortlichkeit des Reichskanzlers andererseits. Der Kaiser war staatsrechtlich, strafrechtlich und politisch unverantwortlich. Zivilrechtlich konnte er hingegen grundsätzlich geklagt werden, da er nicht über den Gesetzen stand. Die Reichsverfassung sah, anders als die preußische Verfassung, keinen Verfassungseid des Kaisers vor. Trotzdem legten Friedrich III. und Wilhelm II. bei ihrem Regierungsantritt ein Treugelöbnis auf die Reichsverfassung ab.

 

Im vierten Teil (dem umfangreichsten des Buches) behandelt Ostermann die Kompetenzen des Kaisers. Der Kaiser ernannte und entließ den Reichskanzler. Im Zusammenhang mit der Stellung des Reichskanzlers erörtert der Autor, inwieweit man von einem „persönlichen Regiment“ Wilhelms II. sprechen kann. Seiner Meinung nach ist die Bezeichnung unzutreffend, da Kaiser und Kanzler im System der Reichsverfassung immer voneinander abhängig waren; der Kanzler vom Vertrauen des Kaiser, der Kaiser von der Bereitschaft des Kanzlers, durch die Gegenzeichnung die Verantwortung für die Handlungen des Kaisers zu übernehmen. Diese Abhängigkeit schloss allerdings nicht aus, dass einer den anderen dominierte; bis 1888 war das Bismarck gegenüber Wilhelm I., ab 1890 dann Wilhelm II. gegenüber seinen Kanzlern. Auch Wilhelm II. blieb aber von seinen Kanzlern abhängig, da er zwar rechtlich, nicht aber politisch die Möglichkeit hatte, ständig den Kanzler zu wechseln. Nach der „Daily-Telegraph-Affäre“ 1908 übte der Kaiser deutlich mehr Zurückhaltung und im ersten Weltkrieg wurde er endgültig zu einem „Schattenkaiser“ hinter der Obersten Heeresleitung. Ostermanns Ablehnung des Begriffes „persönliches Regiment“ scheint mir nicht überzeugend. Einerseits handelt es sich dabei um einen Begriff, der schon während der Regierung Wilhelms II. verwendet wurde, und zwar auch in seiner engen Umgebung, und andererseits ist es gerade kein rechtlich exakt definierter Begriff, sondern ein politischer, der jene Dominanz des Kaisers beschreibt, die auch ihm auch Ostermann attestiert.

 

Der Kaiser berief, eröffnete, vertagte und schloss den Bundesrat und den Reichstag. In diesem Zusammenhang behandelt Ostermann die besondere Konstruktion des Bundesrates in der Reichsverfassung, der eine Stellung sui generis zwischen Legislative und Exekutive einnahm. Während der Kaiser bestimmen konnte, wann der Bundesrat tätig wurde, konnte er als Kaiser keinen inhaltlichen Einfluss auf dessen Tätigkeit ausüben. Als König von Preußen verfügte er hingegen über 17 der 58 Stimmen im Bundesrat, die in Verfassungsfragen noch dazu eine Sperrminorität hatten. Bezüglich des Reichstages ist bemerkenswert, dass der Kaiser ihn zwar alleine einberufen und schließen konnte, zur Auflösung des Reichstages aber ein Beschluss des Bundesrates nötig war, dem der Kaiser zustimmen musste. In der Praxis war der Weg allerdings insofern umgekehrt, als der Kaiser beim Bundesrat den Auflösungsbeschluss beantragte. Obwohl nach dem Wortlaut der Reichsverfassung weder der Kaiser noch der Kanzler ein Recht zur Gesetzesinitiative hatten, brachte in der Verfassungsrealität der Kanzler im Namen des Kaisers Gesetzesvorlagen im Reichstag ein. Bei der Sanktionierung der Reichsgesetze hatte der Kaiser deren verfassungsmäßiges Zustandekommen formell zu prüfen.

 

In der Verwaltung hatte der Kaiser umfassende Kompetenzen, nämlich die Personal-, Organisations- und Verordnungsgewalt, soweit es sich um Angelegenheiten handelte, die in unmittelbarer Reichsverwaltung vollzogen wurden. Ostermann erläutert detailliert, welche konkreten Möglichkeiten der Kaiser in den einzelnen Bereichen der Verwaltung hatte. Noch wesentlich umfassender als seine Kompetenzen in der Zivilverwaltung waren diejenigen des Kaisers als Oberbefehlshaber des Reichsheeres und der Reichsmarine. In seinen Handlungen als Oberbefehlshaber war er bis zu den Verfassungsreformen im Oktober 1918 nicht an die Gegenzeichnung des Reichskanzlers gebunden. Als Oberbefehlshaber konnte der Kaiser den Kriegszustand verhängen, wodurch die vollziehende Gewalt auf das Militär überging. In dieser Möglichkeit sieht Ostermann mit Recht die machtvollste Kompetenz des Kaisers überhaupt. Auch die Entscheidung über Krieg und Frieden stand dem Kaiser zu; hier war aber die Gegenzeichnung des Reichskanzlers notwendig. Die Verfassungsänderungen vom Oktober 1918 machten dafür auch die Zustimmung von Bundesrat und Reichstag erforderlich.

Besondere Kompetenzen hatte der Kaiser in jenen Reichsgebieten, die nicht zu einem der Länder gehörten, also in Elsass-Lothringen und den Schutzgebieten. Elsass-Lothringen erhielt durch die Verfassung von 1911 eine Stellung, die der eines Landes stark ähnelte. In den Schutzgebieten behielt der Kaiser hingegen bis zum Ende des Kaiserreiches eine nahezu diktatorische Stellung.

 

Im abschließenden fünften Teil beschäftigt sich Ostermann mit der Rechtsnatur der Kaiserwürde. Seiner Meinung nach war der deutsche Kaiser aufgrund der speziellen Konstruktion des deutschen Reiches kein Monarch. Die Souveränität lag nicht beim Kaiser, sondern bei der Gesamtheit der verbündeten Einzelstaaten. Das höchste Reichsorgan war demnach der Bundesrat als Vertretung dieser Gesamtheit. Ostermann muss aber zugeben, dass sich die Verfassungspraxis anders entwickelte, und der Bundesrat trotz seiner umfassenden Kompetenzen hinter den Kaiser zurücktrat, der in der Öffentlichkeit zunehmend als Souverän und quasi-monarchische Reichsspitze wahrgenommen wurde. Das wurde auch dadurch erleichtert, dass der Kaiser als König von Preußen der Monarch in jenem Land war, das drei Viertel des Reiches umfasste. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde sicher nicht immer genau differenziert, ob ein und derselbe Mann eine Funktion als deutscher Kaiser oder als König von Preußen ausübte. Genau das gehört aber zu den Verdiensten von Ostermanns Arbeit: Er unterscheidet theoretisch klar zwischen der deutschen Kaiserwürde und dem preußischen Königtum, zeigt aber gleichzeitig, wie diese beiden Funktionen miteinander verwoben waren. Überhaupt beschränkt er sich nicht auf eine reine Darstellung der historischen Rechtslage, sondern beschreibt auch deren konkrete Umsetzung in der Praxis.

 

Wien                                                               Christoph Schmetterer