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Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, hg. v. Condorelli, Orazio/Roumy, Franck/Schmoeckel, Mathias, Band 1 Zivil- und Zivilprozessrecht (= Norm und Struktur 37,1). Böhlau, Köln 2009. XVIII, 445 S. Besprochen von Gunter Wesener.

Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, hg. v. Condorelli, Orazio/Roumy, Franck/Schmoeckel, Mathias, Band 1 Zivil- und Zivilprozessrecht (= Norm und Struktur 37,1). Böhlau, Köln 2009. XVIII, 445 S. Besprochen von Gunter Wesener.

 

Der vorliegende Band enthält achtzehn Beiträge, in denen der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur im Bereiche des Zivil- und Zivilprozessrechts untersucht wird. Es handelt sich bei diesen Beiträgen um Referate, die bei einer Tagung im April 2008 in der Villa Vigoni gehalten wurden. Zwei weitere Tagungen sollen folgen, welche Themen des öffentlichen Rechts sowie des Straf- und Strafprozessrechts gewidmet sein werden.

 

In seinem Einleitungsvortrag („Ius civile, ius canonicum, società medievale) (S. 1ff.) behandelte Manlio Bellomo (Catania) ein wichtiges methodisches Problem, nämlich die Frage, ob es sinnvoll sei, nach Einflüssen eines Zweiges der Rechtswissenschaft auf einen anderen zu suchen, oder ob man von einer wechselseitigen Durchdringung der Materien auszugehen habe.

 

Ein grundlegender Beitrag stammt von Peter Landau (München): „Die Anfänge der Prozessrechtswissenschaft in der Kanonistik des 12. Jahrhunderts“ (S. 7ff.). Der Verfasser hebt die systematische Darstellung des Prozessrechts nach den ordines iudiciarii durch W. Litewski[1] hervor und gibt zunächst einen Überblick über die mittelalterliche Literargeschichte des Prozessrechts (S. 9ff.). In seinem Prooemium zum Speculum iudiciale gibt Guilelmus Duranti am Ende des 13. Jahrhunderts eine Liste von elf Autoren auf dem Gebiet der ‚practica iuris’, die von Pilius (Pileus) bis zu Aegidius de Fuscarariis reicht, der 1266 einen Ordo iudiciarius verfasste. Zu dieser Liste lieferte Johannes Andreae in seinen Additiones zum Speculum, die er um 1346 abschloss, eine Reihe ergänzender Angaben, die eine spätmittelalterliche Literargeschichte des Prozessrechts ergeben (Verfasser S. 9). Eingegangen wird vom Verfasser auch auf die Entstehung der Prozessrechtswissenschaft außerhalb Bolognas, insbesondere in der anglo-normannischen Schule. Nach Aufzählung der einzelnen Werke (S. 12ff.) kommt der Verfasser (S. 21f.) zu folgenden wichtigen Ergebnissen: 1.) Die Spezialisten des Prozessrechts schufen mit den in Sachtitel gegliederten Ordines eine Systematik aus einer Synthese von Texten des römischen und kanonischen Rechts. Seit dem 12. Jahrhundert gibt es eigene Lehrbücher des Prozessrechts. 2.) Seit dem 12. Jahrhundert werden Zivilprozess und Strafprozess klar unterschieden. 3.) Im gelehrten Prozessrecht wurde eine Kombination von römischem und kanonischem Recht entwickelt. Der Verfasser (S. 22) betrachtet das 12. Jahrhundert „als eine große schöpferische Epoche der europäischen Rechtsgeschichte“.

 

Charles de Miramon (Paris) befasst sich mit „Guillaume de Champeau et la régle de droit des personnes“ (S. 33ff.). Er untersucht an Beispielen der französischen Praxis des 12. Jahrhunderts, wie dogmatische Figuren in der Rechtsanwendung kirchlicher Behörden entstanden und weiterentwickelt wurden.

 

Mario Ascheri (Rom) behandelt in seinem Beitrag „Differentiae inter ius canonicum et ius civile“ (S. 67ff.) die grundsätzlichen Unterschiede zwischen ius civile und ius canonicum sowie die Literaturgattung der Differentiae.

 

Einen Beitrag zur kanonistischen Theorie der Präsumtionen leistet Antonia Fiori: „Praesumptio violenta o iuris et de iure?“ (S. 75ff.).

 

Mit der „Entwicklung der juristischen ‚Stellvertretung’ im Kontext theologischer und juristischer Begrifflichkeiten“ (S. 107ff.) befasst sich Mathias Schmoeckel (Bonn). Der Begriff „Stell-Vertretung“ bzw. „Vertretung“ ist eine Schöpfung des 18. Jahrhunderts. In der mittelalterlichen Rechtslehre finden sich aber eine Reihe von Rechtsinstituten, die als Vorläufer einer Stellvertretung, eines Stellvertreters angesehen werden können, so procurator, legatus, nuntius oder vicarius. Die gewillkürte Stellvertretung (procuratio) war begrifflich vom Auftrag getrennt. Der Begriff der repraesentatio wurde juristisch zunächst nur untechnisch verwendet. Der Verfasser (S. 133) kommt zum Ergebnis, dass die Kanonisten noch keine allgemeine Stellvertretung lehrten, dass sich aber eine starke Aufgeschlossenheit gegenüber der Zulässigkeit von Stellvertretung zeigte. Unterschiede zwischen Kanonisten und Legisten lassen sich kaum feststellen. Durch weitere Ausnahmen vom Stellvertretungsverbot wurde versucht, den Anwendungsbereich der Vertretung zu erweitern. Ein theologischer Einfluss in der Repräsentationslehre lässt sich vermuten, doch lässt sich weder eine theologische Lehre der allgemeinen Stellvertretung feststellen noch eine Nutzung des Wortfeldes durch die Kanonisten. Die Gültigkeit der Vertretung kraft Parteikonsenses wurde erst durch Grotius allgemein anerkannt, doch waren die Kanonisten des Mittelalters nicht weit davon entfernt (S. 135).

 

Dem Einfluss des mittelalterlichen kanonischen Rechts auf die Bildung eines Rechts der ‚responsabilité’ im Bereiche des Schadenersatzrechts ( S. 137 ff.) widmet sich Olivier Descamps (Paris).

 

In seinem Beitrag „Gewere, vestitura, spolium“ (S. 169ff.) weist Emanuele Conti (Rom) Beziehungen zwischen den Traditionen des frühmittelalterlichen Rechts und der Kanonistik nach.

 

Der kanonistische Beitrag zur Begrenzung von Vertragsstrafen ( S. 193ff.) stammt von Hans-Georg Hermann (München). Er setzt sich insbesondere mit der Frage der Höchstgrenzen und Restriktionen für die Strafverwirkung auseinander (S. 201 ff.).

 

Zeugenaussagen de auditu alieno (vom Hörensagen) in kanonistischen Quellen sind Gegenstand des Referates (S. 215ff.) von Alessandra Bassani (Mailand).

 

Drei Beiträge haben die Rolle des kanonischen Rechts im Bereich der Geschichte des Familienrechts zum Gegenstand. Anne Lefebvre-Teillard (Paris) befasst sich mit dem Einfluss des kanonischen Rechts auf die Erscheinung einer Präsumtion der Vaterschaft (S. 249ff.) Franck Roumy (Paris) untersucht die Frage, wie sich eine Typologie der Kindschaftsverhältnisse in verschiedenen europäischen Rechtsordnungen unter dem Einfluss der Kanonistik entwickelt habe (S. 265ff.). Florence Demoulin-Auzary (Université d’Artois) geht der Frage nach, wie sich der Einfluss des kanonischen Rechts auf ein spezifisch französisches Rechtsverhältnis, die Vermutung des Kindschaftsstatus (possession d’état) ausgewirkt habe (S. 289ff.).

 

Mit dem durch Eid bekräftigen Testament im weltlichen und kanonischen Recht (S. 311ff.) befasst sich Orazio Condorelli (Catania). Die eidliche Bekräftigung hatte den Zweck ein Testament nach ius commune unwiderruflich zu machen.

 

Mortuaria und andere Abgaben von Todes wegen aus der Sicht des Kirchenrechts sind Gegenstand des Beitrags (S. 337ff.) David von Mayenburgs (Bonn). Dieser unterscheidet sechs Bedeutungen von Mortuarium: 1.) Mortuarium als freiwilliges Opfer von Laien und Klerikern „zur Seelenrettung“, 2.) Mortuarium als Leistung der Laien an die Pfarrkirche für Amtshandlungen im Kontext des Begräbnisses (Stolgebühr), 3.) Mortuarium als Abgabe der Kleriker von Todes wegen an Bischof, Archidiakon oder Erzpriester, 4.) Mortuarium als „Eintritsgebühr“ der Kleriker, 5.) Mortuarium als feudalrechtlich geprägte Abgabe von Todes wegen und 6.) Erbschaftssteuer und Zehnt.

 

Thomas Duve (Buenos Aires) untersucht die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Ausbildung allgemeiner Vertragslehren in der Spanischen Spätscholastik (S. 389ff.) und Clarisse Siméant (Paris) prüft die Frage, wie über die Kanonistik das Sonderrecht des Privilegs Eingang in die französische Rechtsordnung finden konnte (S. S. 409).

 

Nicht publiziert werden konnte leider der Beitrag von Harald Siems (München), „der „anhand nicht nur kanonistischer, sondern auch romanistischer Quellen sowie einiger leges nationum Germanicarum die Frage der Rechtsunkenntnis (ignorantia iuris) und der Rückwirkung von Gesetzen“ behandelt (p. VI).

 

Sorgfältige Quellen-, Personen- und Sachregister erschließen das Werk.

 

Die recht unterschiedlichen Beiträge bieten in ihrer Gesamtheit einen vorzüglichen Einblick in die Rolle des kanonischen Rechts im Mittelalter und seinen Einfluss auf die europäische Rechtskultur, insbesondere im Bereiche des Zivil- und Zivilprozessrechts. Wir sind den Autoren und Herausgebern zu Dank verpflichtet.

 

Graz                                                                                       Gunter Wesener

[1] Der römisch-kanonische Zivilprozess nach den älteren ordines iudiciarii, 2 Bände (Krakau 1999), dazu G. Wesener, ZRG Germ. Abt. 121 (2004), 679 ff.