Winkler, Heinrich August, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. Beck, München 2009. 1343 S. Besprochen von Marcel Senn.
Was
ist das: „der Westen“? Diese Frage
habe ich mir, offen gestanden, noch nie gestellt, so wie sich viele andere ja
auch nie fragen, was denn die berüchtigte Allerweltsvokabel „Europa“ bedeute,
und von der zwar alle meinen, sie wüssten, wovon sie sprächen.[1]
Es sind diese selbstverständlichen Halbbegrifflichkeiten, die wie graue Eminenzen
durch aller Munde kursieren und die selbst die Wissenschaften noch erfolgreich
beflügeln. Nun also schickt sich einer an, das Phänomen „Westen“ historisch aufzuarbeiten.
Und mit Hermann August Winkler – inzwischen emeritierter Professor der
Humboldt-Universität und ehemals Mitbegründer sowie langjähriger Mitherausgeber
von „Geschichte und Gesellschaft“ (einer der profundesten Zeitschriften im
Fachbereich der Geschichte) setzt sich zugleich einer der besten Kenner der
neuesten Geschichte Mitteleuropas mit dieser Frage auseinander.
Winkler
definiert den „Westen“ als „Projekt“, das zwar weitgehend der Aufklärungsperiode
Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika entsprungen sei, seine
Wurzeln jedoch schon in der Antike und im Mittelalter gehabt habe. Dieses
Projekt werde durch die vier Ideen der (1) unveräußerlichen Menschenrechte, der
(2) repräsentativen Demokratie, der (3) Herrschaft des Rechts bzw. des
Rechtsstaats und der damit verbundenen (4) Idee der Gewaltenteilung
konstituiert.
Die
Geburt dieses Projekts verdanke sich, so Winkler, dem ständigen Leiden an den
Missständen in der Praxis. Denn dies entspreche Eigenart und Charakter des
Westens, der sich die antike philosophische Tugend der Selbstkritik stets bewahrt,
diese Kritik aber auch ständig zur Korrektur der eigenen Praxis eingesetzt und
sich nie mit der Faktizität der Praxis begnügt habe. Insofern sei der Westen durch
einen doppelten Widerspruch geprägt: Zum einen durch das radikale Spannungsverhältnis
von normativem Projekt und politischer Praxis, zum anderen durch die Tatsache
der Ungleichzeitigkeit in der politischen Umsetzung des Projekts in den
verschiedenen Staaten im Westen. Diesen beiden Widersprüchen entspringe auch der
fortwährende Antrieb zur ständigen Verbesserung der fundamentalen Ideen in der
Realität. Dies habe sich etwa in der Propagierung der Idee der
unveräusserlichen Menschenrechte im Missverhältnis zu ihrer Umsetzung
betreffend die afroamerikanischen Sklaven in den Vereinigten Staaten von
Amerika gezeigt. Dieses Spannungsverhältnis habe die USA zwar in einen gefährlichen
Sezessionsprozess getrieben, doch gleichzeitig die Umsetzung der Idee voran
gebracht und letztlich den Bundesstaat sogar noch gestärkt. Ähnliches ließe
sich mit Bezug auf den britischen Kolonialismus in Indien zeigen. Die
Kolonialisierung habe, im Gegensatz zum Kolonialismus anderer Staaten des
Westens, keine aufoktroyierte Assimilierung sondern vielmehr konkrete
Fortschritte im Bildungs-, Gesundheits- und Verkehrswesen für Indien gebracht,
grausame Rechtsbräuche wie die Witwenverbrennung abgeschafft und gleichzeitig
den Aufbau eines Verwaltungs- und Gerichtswesens (freilich im britischen
Verständnis der Idee des Projekts) eingeleitet. In Folge der Universalisierung
des europäischen Staatskonzepts sei durch den „kolonialen Verwaltungsstaat“ schliesslich
die postkoloniale Nationalstaatlichkeit Indiens überhaupt erst ermöglicht
worden. Auch die Ideologie des Nationalstaates als ein weiteres westliches
Ideenprodukt offenbare diesen Widerspruch zwischen Projekt und Praxis deutlich.
Die Nationalstaatsidee als letzte Instanz menschlicher Sinngebung und
Selbstrechtfertigung im Sinne der Moderne sei zwar in Europa selbst zu einem binnenstaatlichen
Unterdrückungsinstrument in den Händen der Regierenden geworden, derweil dieselbe
Idee in den Kolonien zur Emanzipation gegenüber den Kolonialmächten beigetragen
habe.
Gewiss,
man mag die eine oder andere – hier nur skizzierte – Darlegung anders sehen; man
mag, wie ich, insbesondere die Entwicklung der Gewaltenteilung, die hier über
Magna Charta, Separation der weltlichen von der geistlichen Macht im
Mittelalter sowie über Montesquieu hergeleitet wird, anders beurteilen, doch am
Ende überzeugt selbst gegen wohl berechtigte Kritik und ohnehin gegen jede
kleinliche Detailkrämerei doch die klare und plausible Gedankenführung des
Autors, der unerschrocken der festen Überzeugung bleibt, man könne aus der
Geschichte (noch) lernen, wenn man sie nur richtig zu lesen verstünde. Es ist
gerade diese seine Fähigkeit, den geschichtlichen
Stoff mit all den inneren Widersprüchen auf diese eine Grundspannung zwischen normativem Projekt und praxisorientiertem
Machtkonzept zurückzuführen, und es ist auch seine Fähigkeit, die Botschaft einer solcherweise begriffenen
Geschichte dem historischen Material ebenso intellektuell anregend wie aufklärend
fortlaufend zu entlocken. Dieser Vorzug ist angesichts des allgegenwärtigen Mainstreams of Entertainment by History nur
zu begrüßen.
Was
heißt dies für die Rechtsgeschichte? Auch wenn Winkler kaum Literatur aus unserem
Fachbereich zitiert, so kommt der renommierte Autor aus der allgemeinen Geschichtszunft
doch unserer Disziplin sehr weit entgegen, ja er arbeitet unserer Rechtsgeschichte
geradezu zu, eine Tatsache, die man nur selten aus der Mutterdisziplin erfahren
durfte. Er zeigt, wie die grundlegende und überragende Bedeutung des Rechts für
den Aufbau und die Entwicklung der modernen Gesellschaften und Staaten des Westens
zu verstehen ist. Indem er also die Bedeutung des Rechts für die Entwicklung des
Westens in aller nur wünschbaren Deutlichkeit herausarbeitet, lässt sich eine
Klarsicht gewinnen, die den vielen Trends auch in unserem Fachbereich zu
widersprechen vermag, wonach das Recht nämlich bloß ein Derivat sogenannt harter
Faktoren sei. Alleine schon aus diesem Grunde lohnt sich die Auseinandersetzung
mit diesem Werk.
Zürich Marcel
Senn
[1] Vgl. dazu: M. Senn, Wissenskonzeptionen in
Europa – Suche nach historischen Konstanten, in: Hans-Ulrich Rüegger, Martina
Arioli, Heini Murer, Universitäres Wissen teilen. Forschende im Dialog, Zürich
2009, S. 145-151 (= http://www.rwi.uzh.ch/lehreforschung/alphabetisch/senn/cont/081208_Wissen_teilen_Referat.pdf).