Wilke, Karsten, Die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG) 1950-1990. Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik. Schöningh, Paderborn 2011. 464 S. 13 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als sich am18./19. April 1959 im hessischen Arolsen der „Bundesverband der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS e. V.“ (HIAG) endgültig zu etablieren vermochte, konnte die Interessensgemeinschaft der vorgeblichen Elite-Veteranen des Zweiten Weltkriegs bereits auf eine mehr als ein Jahrzehnt lange bewegte Geschichte zurückblicken. Bereits am Ende der 1940er Jahre waren dezentral auf regionaler Ebene, ausgehend von paternalistischen Initiativen hoher und höchster Offiziere der Waffen-SS, Selbsthilfegruppen ins Leben gerufen worden, die sich als „Hilfsgemeinschaften auf Gegenseitigkeit“ (kurz HIAG) bezeichneten und deren Mitglieder einander bei der Organisation des Alltags unterstützten, einen Vermisstensuchdienst aufbauten und Hinterbliebene wie inhaftierte ehemalige Truppenangehörige betreuten. Konträre Auffassungen in Fragen der gesellschaftlichen Integration und der internen Organisation, dazu Kompetenzkonflikte unter den maßgeblichen Führungspersönlichkeiten, den ehemaligen hoch dekorierten Waffen-SS Generälen Paul Hausser, Felix Steiner und Herbert Otto Gille, die jeweils in unterschiedlichen Publikationsorganen („Der Ausweg“, „Wiking-Ruf“, „Der Freiwillige“) ihrer Stimme Ausdruck verliehen, verhinderten lange die Zusammenführung, die schließlich unter HIAG-Bundessprecher Kurt Meyer („Panzermeyer“), der sich „durch sein Geschick als Redner und durch seine fortgesetzte Präsenz auf öffentlichen Veranstaltungen im gesamten Bundesgebiet eine hohe Popularität unter den Mitgliedern (erarbeitete)“ (S. 75), gegen andauernde Widerstände umgesetzt werden konnte. Bis zu 20.000 Mitglieder sollen bisweilen der sich durch Beschluss des Bundesvorstandes am 31. Dezember 1992 schließlich selbst auflösenden Organisation angehört haben.

 

Inhaltlich auf Vorstudien in seiner Diplomarbeit aufbauend, hat der Verfasser, Karsten Wilke, 2010 die vorliegende Arbeit als Dissertation an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld eingereicht und Teilaspekte vorweg in Form mehrerer Aufsätze publiziert. Hauptquelle ist ihm das im Bundesarchiv verwahrte Registraturgut des ehemaligen HIAG-Bundesvorstandes (Signatur B 438), das er mit Recht kritisch unter die Lupe nimmt, erscheint es ihm doch als vorsortiert und reguliert (wichtige Vorgänge wurden kassiert, so Teile des Nachlasses Karl Cerff und der Nachlass Felix Steiner) im Hinblick auf eine geplante, aber nie verwirklichte Eigendarstellung.

 

Primäres Anliegen des Verfassers ist es offensichtlich, durch Verschränkung verschiedener Diskursebenen über drei große Kapitel an Hand der Geschichte der HIAG paradigmatisch die Geschichte der Vergangenheitskultur in der „alten“ Bundesrepublik zu explizieren, wobei er sich vor allem kulturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden bedient. Der erste Block behandelt die Organisationsgeschichte bis zu der mit dem Namen Kurt Meyer verknüpften Durchsetzung einer zentralen Gesamtorganisation und eines demokratiekompatiblen Kurses, begleitet von einer strategisch angelegten Kontaktsuche zu opinion leaders aus Politik und Wirtschaft. Breiter Raum wird anschließend im zweiten Abschnitt der Vergemeinschaftung unter den organisierten Veteranen der Waffen-SS eingeräumt; Karsten Wilke untersucht die bildlichen und sprachlichen Codes, die Interaktion innerhalb der Führungsebene und jene zwischen Führungsebene und Basis, interne Feierlichkeiten sowie die sogenannten „Suchdiensttreffen“, bundesweit ausgerichtete Großveranstaltungen. Der im abschließenden dritten Teil dargestellte Niedergang der HIAG vollzieht sich in den siebziger und achtziger Jahren vor dem Hintergrund einer durch populäre Medienprodukte (Fernsehserie „Holocaust“) sensibilisierten Öffentlichkeit, des Zerbrechens der informellen Großen Koalition zwischen SPD und CDU im Umgang mit den organisierten Veteranen der Waffen-SS und einer zunehmend präziseren Geschichtswissenschaft (beispielhaft dafür Bernd Wegners richtungsweisende Studie zur Waffen-SS „Hitlers Politische Soldaten“), welche die weitgehend auf Memoirenliteratur fußende „Hausgeschichtsschreibung“ konterkarierte und deren Deutungsmonopol zu Fall brachte.

 

Wilkes Arbeit präsentiert damit „eine Geschichte der HIAG als Abfolge von Integration und Desintegration, von Mäßigung und Radikalisierung, von öffentlicher Präsenz und Rückzug“, nimmt aber auch „die Angebote von Politik und Gesellschaft an die Klientel“ und die „Grenzen des Konsenses“ ins Visier (S. 33). Normative Akte geben dabei immer wieder entscheidende Landmarken vor: Im Herbst 1946 erklärte das alliierte Internationale Militärtribunal (IMT) in Nürnberg die Schutzstaffel (SS) und mit ihr auch die Waffen-SS zur verbrecherischen Organisation; damit mussten ihre etwa 250.000 Veteranen zur Kenntnis nehmen, „dass die Regelung ihrer Rentenbezüge aufgrund des Ausführungsgesetzes nach Artikel 131 des Grundgesetzes von derjenigen für die früheren Wehrmachtsangehörigen abwich“, sie „erlebten eine insgesamt strengere Strafverfolgung und waren […] mit Erschwernissen bei der Aufnahme in die Bundeswehr konfrontiert“ (S. 15). Wenngleich sich mit den Straffreiheitsgesetzen von 1949 und 1954 (mit letzterem wurden Verurteilungen wegen „Organisationsverbrechen“ aus den Strafregistern gelöscht) eine Delegitimierung der Verfolgung von NS-Unrecht abzeichnete und mit den Novellierungen des Ausführungsgesetzes nach Art. 131 GG bis 1961 eine weitgehende materielle Angleichung erfolgte, blieb die „Kultur der Viktimisierung“ - die Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS stilisierten sich selbst weiterhin zu als durch Siegerjustiz und Willkür stigmatisierten Bürgern zweiter Klasse – „das wichtigste gesellschaftlich integrierende Moment […] in der frühen Bundesrepublik“ (S. 17). Die mit der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg einhergehende Intensivierung der Strafverfolgung Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre, die bald auch Angehörige bestimmter Verbände der Waffen-SS betraf, verunsicherte die organisierten Veteranen weiter und „galt ihnen als Ausdruck fortgesetzter unangemessener Rache“; bei Unterstützungsersuchen von Prozessen bedrohter „Kameraden“ bemühte sich die HIAG-Führung „unter aller Vorsicht, den Bittstellern zu helfen, auch wenn sie wegen KZ-Verbrechen oder Massenerschießungen belangt wurden“ (S. 102). In einem gewandelten gesellschaftspolitischen Umfeld ergingen entgegen früherer, mit Rücksicht auf das nicht unerhebliche Wählerpotential liberalerer Handhabung im November 1981 der Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD, der Mitgliedern der HIAG eine gleichzeitige Parteimitgliedschaft unmöglich machen sollte, sowie in engem Konnex die 1982 verlautbarte Neuformulierung des Traditionserlasses der Bundeswehr von 1965, die nun dienstliche Kontakte mit Nachfolgeorganisationen der ehemaligen Waffen-SS ausdrücklich untersagte, Regelungen, die mithin maßgeblich zum Statusverlust der Veteranenvereinigung in der demokratischen Gesellschaft beitrugen und diesen Niedergang zugleich dokumentieren.

 

In Summe weist Karsten Wilkes lesenswerte und plausible Studie nach, dass es der HIAG aus vielerlei Gründen nie wirklich gelang, das Odium einer Nachfolgeorganisation der nationalsozialistischen SS loszuwerden. Der Grad der Wahrnehmung dieser Tatsache und ihre faktische Relevanz korrelierten maßgeblich mit politisch-pragmatischen Interessen und dem erinnerungspolitischen Wandel. Die Einordnung der Vereinigung in die Geschichte des Rechtsextremismus sei „schwierig“, bestünde doch das entscheidende Problem darin, „dass es sich bei der HIAG zwar formal um eine hierarchisch gegliederte Organisation mit einem gemeinsamen Selbstverständnis handelte, die nachgeordneten Instanzen in der Praxis jedoch weitgehend selbständig und weisungsunabhängig agieren konnten“ (S. 426). Der Verfasser mahnt daher folgerichtig ergänzende Untersuchungen auf der von ihm wenig berücksichtigten Mikroebene (Arbeitsgremien innerhalb der Organisation, lokale HIAG-Gruppen) sowie zur Geschichte der Truppenkameradschaften der Waffen-SS an.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic